Durch Zeit und Raum
Diamanten betrachtend, den er mir an den Finger gesteckt hatte, wenn ich also von seiner Rückkehr träumte und um sein Wohlergehen betete, hätte ich da je gedacht, daß alles sich so ergeben würde, wie es zuletzt kam! Bran ist völlig in sich gekehrt und verschlossen; er spricht mit keinem, nicht einmal mit seinem Zwillingsbruder. Wage ich es, ihn nach unserer Vermählung zu fragen, schneidet er mir das Wort ab oder kehrt mir gar schweigend den Rücken. Matthew sagt, auch andere litten unter dieser Verdüsterung der Sinne, und sie sei den Schrecken und Wirren des Krieges zuzuschreiben.
Ich war und bin, seit demnächst siebzehn Jahren, Zillah Llawcae. Werde ich je Zillah Maddox sein?
Sie blätterten weiter, immer rascher nun, ohne die Tagebucheintragungen zu lesen, und betrachteten nur die liebevoll ausgeführten und bis ins kleinste Detail naturgetreu nachempfundenen Bilder von Vögeln und Schmetterlingen, Blumen und Bäumen, Eichhörnchen, Feldmäusen und Laubfröschen.
Ein kalter Schauder lief Chuck über den Rücken. »Pas Mutter war eine Llawcae. Diese Zillah könnte eine unserer Vorfahren sein… Und sie hat einmal gelebt und alle diese Bilder gemalt – und alles ist bis heute geblieben, wie es damals war.«
Er blätterte um, stieß auf eine Notiz und begann laut zu lesen:
Heute ist mein siebzehnter Geburtstag. Und welch ein trauriger Tag ist dies gewesen, obgleich Vater und ich zu den Maddox zum Essen geladen waren. Bran war bei uns und doch weit fort. Er saß an der Tafel und achtete kaum der Köstlichkeiten, die man eigens aufgetischt hatte – gewiß nicht nur um meinetwillen, sondern vor allem, um seine Sinne zu reizen —, doch wenn einer das Wort an ihn richtete, gab Bran bloß einsilbig Antwort.
Chuck blätterte weiter und las wieder eine Notiz vor:
Matthew berichtet, er habe tags zuvor mit Bran beinahe ein Gespräch geführt, und nun hege er die Zuversicht, daß Brans Wunden, die der böse Krieg seinem Geist und Gemüt geschlagen, bald heilen könnten. Ich trage Brans Ring als ein Zeichen der Hoffnung, und ich werde die Hoffnung nicht sinken lassen. Was wäre ich ohne Matthews Trost und Stütz? Hätte Matthew nicht diesen Unfall erlitten, welcher der beiden hätte wohl um meine Hand angehalten! Fort mit dir, dumme Frage! Liebe ich denn nicht beide von Herzen?
Die Großmutter nahm den auf dem Stapel zuoberst liegenden Brief. »Er ist von Bran Maddox. Aber er kommt aus dem Ausland. Vespugia? Wo liegt denn das wieder?«
»Es hat einmal zu Patagonien gehört.«
»Pata…?«
»In Südamerika.«
»Ach so.« Sie zog den Brief aus dem Umschlag.
Mein geliebter Bruder Matthew,
ich grüße Dich an diesem warmen Novembertag aus Vespugia. Schneit es daheim! Ich werde allmählich hier seßhaft, komme mit den Leuten aus Wales gut zurecht, als hätte ich die meisten von ihnen schon zeitlebens gekannt…
Als sie zu Ende gelesen hatte, sagte sie: »Euerm armen Vater hätte diese Entdeckung große Freude bereitet.«
Chuck nickte, blätterte weiter und las hin und wieder einige Zeilen. Zillah Llawcae hatte nicht nur Landschaftsbilder gemalt, sondern auch viele Skizzen von Menschen, manche mit Tusche, andere mit Wasserfarben. Da war zum Beispiel die Federzeichnung eines hochgewachsenen Mannes mit Zylinder und einer großen schwarzen Tasche. Der Mann sah aus wie Abraham Lincoln und stand neben einer Pferdekutsche. Darunter stand: Vater, vor der Abreise zu einer Entbindung .
Andere Skizzen zeigten einen jungen, bartlosen Mann, fast noch ein Kind, mit blondem Haar, offenem Gesicht und weit auseinanderstehenden Augen, die stets in die Ferne zu starren schienen. Die Unterschriften lauteten: Mein geliebter Bran oder: Mein Herzliebster oder: Mein über alles Geliebter!
Es gab aber auch Bilder von einem Jüngling, der Bran aufs Haar glich – und doch wieder nicht, denn sein Gesicht war von schmerzlichen Zügen gekennzeichnet. Dazu hatte Zillah geschrieben: Mein getreuer Matthew .
»So schöne Bilder!« rief Beezie. »Wenn ich nur auch so malen könnte!«
Die alte Frau betrachtete das Ganze eher von der praktischen Seite. »Ein paar Dollar sollte das Tagebuch schon einbringen.«
»Du wirst es doch nicht verkaufen wollen, Großmutter?!« rief Chuck erschrocken.
»Mein liebes Kind, wir brauchen das Geld, oder wir verlieren das Dach über dem Kopf. Eure Mutter wird alles verkaufen, was sich an den Mann bringen läßt.«
Der Altwarenhändler kaufte die Münzen und das alte Porzellan um einen Betrag, der Chuck
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