Durch Zeit und Raum
»Ins Bett mit euch beiden! Es ist spät!«
Es war Sommer geworden.
»Dieser gräßliche, alte Duthbert Mortmain!« sagte Beezie zu Chuck. »Nie werde ich zu ihm Pa sagen!«
»Ich auch nicht.«
Den Mann schien es keineswegs zu stören, daß sie ihn Herrn Mortmain nannten.
Er führte den Laden mit Strenge und Gewissenhaftigkeit. Zu ihrer Mutter war er freundlich und zuvorkommend. Manchmal strich er ihr zärtlich durchs Haar. Den Leuten im Dorf entging nicht, wie geduldig er um sie warb.
Über der Ladenkasse war jetzt ein Schild angebracht: KREDIT WIRD NICHT GEGEBEN. Wie bisher halfen Beezie und Chuck an den Nachmittagen und am Sonntag aus.
Und Mutter zeigte kein Lächeln. Nicht einmal, als Duthbert Mortmain ihr eine Schachtel mit Schokoladeplätzchen brachte; eine hübsche Schachtel mit einer fliederfarbenen Schleife.
Sie roch auch nicht mehr nach Angst, dachte Chuck. Aber sie roch auch nicht mehr nach der frischen Bläue des Himmels am Morgen. Nun roch Mutter nach dem dunkelnden, wolkenverhangenen Abendhimmel.
Duthbert Mortmain behielt sich die Freundlichkeiten für die Kunden vor. Mit ihnen lachte und scherzte er und gab sich vollständig als herzhafter, tüchtiger Kumpel. Oben in der Wohnung und am Abend machte er ein saures Gesicht.
»Seid nicht so laut, Kinder!« bat Mutter. »Euer… – mein Mann ist müde.«
»Pa war auch oft müde!« flüsterte Beezie Chuck zu. »Aber er hatte es gern, wenn wir lachten.«
»Weil wir seine Kinder waren«, erwiderte Chuck leise. »Zu Duthbert Mortmain gehören wir nicht; und was ihm nicht gehört, mag er nicht leiden.«
Erst im darauffolgenden Frühjahr verzichtete Duthbert Mortmain darauf, sein zorniges Temperament länger zu zügeln. Im Laden ließ er sich nichts anmerken, nie, auch nicht den lästigsten Kunden gegenüber, auch nicht bei den schwierigsten Händlern. Aber oben im Haus ließ er sich immer mehr gehen. Eines Morgens kam Mutter (»Ich hasse es, wenn die Leute sie Frau Mortmain nennen!« zischte Beezie) mit einem blaugeschlagenen Auge zum Frühstück und gab vor, im Dunkeln gegen die Tür gerannt zu sein. Die Großmutter, Beezie und Chuck sahen einander an, sagten aber nichts.
Und es wurde unmißverständlich klar, daß Duthbert Mortmain Kinder nicht ausstehen konnte, mochten sie sich auch noch so leise verhalten. Sobald Chuck etwas tat, das seinem Stiefvater mißfiel – und das kam jeden Tag wenigstens einmal vor – riß Mortmain ihn an den Ohren, bis sie zuletzt pausenlos schmerzten und dröhnten.
Wenn Beezie hinter der Ladenkasse saß, kniff sie Herr Mortmain jedesmal beim Vorbeigehen in den Arm, als wolle er ihr damit seine Zuneigung beweisen. Aber ihre Arme waren davon bald mit blauen und schwarzen Flecken übersät, und Beezie mußte immer einen Pullover tragen, um die verräterischen Male zu verstecken.
Einmal sah Chuck, wie sich Paddy O’Keefe in der Pause auf dem Schulhof an Beezie heranmachte, lief zu den beiden hinüber und hörte Paddy sagen: »Hat es der alte Mortmain auf dich abgesehen?«
»Wie meinst du das?«
»Du weißt schon.«
»Nein, weiß ich nicht.« Aber sie zitterte.
Da griff Chuck ein. »Laß meine Schwester in Ruhe!«
»Sag lieber dem alten Mortmain, daß er sie in Ruhe lassen soll, Kleiner! Wenn du einmal Hilfe brauchst, Beezie, sag mir’s! Dann kommt der gute alte Paddy und hilft dir aus der Patsche.«
An jenem Abend geriet Duthbert Mortmains Temperament völlig außer Kontrolle.
Sie hatten zu Abend gegessen, und als Beezie den Tisch abräumte, langte ihr Stiefvater über den Stuhl und zwickte sie ins Hinterteil. Chuck sah, wie Beezie ihn daraufhin mit einem haßerfüllten Blick maß.
»Aber, Duthbert…!« protestierte die Mutter.
»Duthbert Mortmain, nimm dich in acht!« Die Großmutter starrte ihn bloß ernst und gefaßt an und sagte kein weiteres Wort. Aber die Warnung war unmißverständlich. Dann stellte sie die Tassen und Gläser auf ein Servierbrett und wollte damit in die Küche gehen.
Auch Mortmain stand auf. Am Treppenabsatz kam er ihr zuvor, hob den Arm und holte zum Schlag aus.
»Nein!« brüllte Beezie.
Chuck sprang auf, warf sich zwischen den Stiefvater und die Großmutter und bekam mit voller Wucht den Hieb ab, der für sie bestimmt war.
Wieder schrie Beezie auf, als Chuck zwischen klirrendem Glas und brechendem Porzellan über die steile Treppe kollerte. Dann lief sie hinter ihm her.
Chuck lag, seltsam verkrümmt, am Fuß der Treppe. Aus Augen, die nichts mehr erkannten, starrte er sie
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