Durch Zeit und Raum
fragte Chuck. Er kannte Duthbert Mortmain vom Sehen: ein schwerfälliger, finsterer Mensch, der im Dorf als Klempner aushalf. Wie roch er? Nicht gerade angenehm. Hart und schwarz, wie ein Brocken Kohle.
»Er hat sich angeboten, Eure Mutter zu heiraten und den Laden zu übernehmen.«
»Aber Pa…!«
»Die schwarzen Kleider hängen längst wieder im Schrank. Duthbert Mortmain hat einen Riecher für gute Geschäfte. Bisher wollte keiner den Laden haben, und auch später wird sich kaum ein Käufer finden. Eurer Mutter bleibt kaum eine andere Wahl. So hart sie auch schuftet und so schwer ihr auch ums Herz sein mag, ist sie doch noch eine attraktive Frau. Kein Wunder, daß Duthbert Mortmain ein Auge auf sie geworfen hat.«
»Aber sie ist unsere Mutter !« widersprach Beezie.
»Nicht für Duthbert Mortmain. Für ihn ist sie eine begehrenswerte Frau. Und für sie ist er der letzte Ausweg.«
»Ausweg? Wieso?«
»Eure Mutter verliert sonst nicht nur den Laden, sondern auch das Dach über unserem Kopf. Ein paar Wochen noch, und man setzt uns auf die Straße.«
Chucks Gesicht erhitzte sich. »Wir könnten nach Vespugia ziehen!«
»Mein Kind, jede Reise kostet Geld – und genau das ist es, was uns fehlt. Du und Beezie, ihr würdet zu Pflegeeltern kommen, und eure Mutter und ich…«
»Großmutter!« Beezie faßte sie am Ärmel. »Du willst doch nicht etwa wirklich, daß Ma ihn heiratet!?«
»Ich weiß nicht, was ich will. Ich wüßte eure Mutter nur gern versorgt – und euch dazu —, ehe ich sterbe.«
Beezie umarmte sie stürmisch. »Du wirst nicht sterben, Großmutter! Nie!«
Chucks Nase begann zu jucken. Es roch intensiv nach Löwenzahnsporen.
Die alte Frau löste sich aus Beezies Umklammerung. »Du hast selbst gesehen, wie der Tod uns mit sich nimmt, ob wir bereit sind oder nicht. Und abgesehen von meiner Sorge um eure Zukunft und die eurer Mutter bin ich bereit zu gehen. Schon allzulang wartet mein Patrick drüben auf mich. Jeden Tag schaue ich über die Schulter, ob er mich nicht schon holen kommt.«
»Großmutter! Ma liebt diesen Duthbert Mortmain doch nicht! Sie kann ihn nicht liebhaben. Und ich hasse ihn.«
»Der Haß trifft den Hassenden mehr als den Verhaßten.«
»Und Branwen?«
»Branwen kannte keinen Haß. Sie liebte und wurde betrogen, und sie rief die Rune, weil sie Hilfe erflehte, nicht Haß oder Vergeltung. Und die Sonne brachte den sanftweißen Schnee zum schmelzen, so daß sie des Nachts nicht fror. Und das Feuer in ihrer bescheidenen Hütte sprang nicht aus dem Herd, sondern flackerte freundlich und ließ sie sich heimelig fühlen. Und der Blitz trug Branwens Botschaft zu ihrem Bruder Bran; und der irische König floh auf sein Schiff, und der Wind trug es hinaus auf die See und ließ es dort in die tiefsten Gründe versinken. Und Bran eilte zu seiner Schwester Branwen und segnete die Erde, so daß sie wieder stark wurde und grünte und blühte.«
»Hat Branwen nach dem irischen König je wieder einen Mann geliebt?« fragte Beezie.
»Das hab ich vergessen«, sagte die alte Frau.
»Großmutter, warum halten nicht auch wir uns an die Rune? Dann braucht Ma vielleicht diesen Duthbert Mortmain nicht zu heiraten.«
»Die Rune darf man nicht leichtfertig gebrauchen.«
»Wir würden keineswegs leichtfertig handeln.«
»Da bin ich nicht so sicher, mein Kind. Erst wäre allerlei Vorsorge zu treffen, und nur die Tolldreisten gehen das Wagnis ein. Die Rune ist für den äußersten Notfall bestimmt.«
»Aber das ist doch ein äußerster Notfall!«
»Nicht einer von der rechten Art.« Die alte Frau schloß die Augen und schwieg. Der Schaukelstuhl knarrte. Dann sagte sie, und es klang wie ein beschwörendes Singen, fast so, als spräche sie die Worte der Rune selbst: »Du wirst sie gebrauchen, mein Lämmchen, doch erst, wenn die Zeit dazu reif ist.« Sie öffnete die Augen und maß Beezie mit einem alles durchdringenden Blick.
»Aber wie soll ich wissen, wann die Zeit reif ist? Warum ist sie es nicht schon jetzt?«
Die Alte schloß erneut die Augen, und wieder wiegte sie sich in ihrem Stuhl. »Der Augenblick ist nicht der rechte. Die Nacht kommt, und die Wolken ziehen auf. Wir müssen warten, bis sie sich alle versammelt haben. Wenn die Zeit reif ist, wird Chuck es dich wissen lassen. Von der anderen Seite der Dunkelheit wird er es dich wissen lassen, dich wissen lassen, dich wissen lassen…« Ihre Worte erstarben. Dann richtete sie sich plötzlich auf und sagte mit ganz gewöhnlicher Stimme:
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