Durst - Roman
gleichgültig kamen ihr die Worte über die Lippen. Als sei es an mir, diesen Sätzen Sinn zu verleihen, ebenso wie es mir überlassen war, diese Ohnmacht und dieses Grauen zu empfinden. Ich sehe die Männer in Tarnuniform, wie sie in den grossen Keller des Hochhauses eindringen. Sehe die Zivilisten darin – verängstigte Menschen, die selbst in dem Moment nicht begreifen, dass der Krieg ihre Biographien längst gekidnappt hat und kein Lösegeld diese je wieder würde freikaufen können. Dass der tagelange Beschuss durch die Artillerie sie auf das, was sie nun erwartete, nicht vorbereiten konnte. Sehe, wie die Alten und Jungen, Frauen und Männer auf die Strasse getrieben werden, wie Vieh, mit Schlägen, Beschimpfungen, mit vorgehaltenen Waffen. Höre die Schüsse der Erschiessungskommandos, stosse mit den Füssen an etwas, das sich schwer und weich anfühlt, das ich der Dunkelheit wegen jedoch nicht erkennen kann. Sehe Szenen, Momentaufnahmen in grellem Blitzlicht. Die Trennung der Frauen von den Männern. Das Wegbringen der Mädchen und Frauen in ein Motel, später ins Gymnasium. Dort werden bereits andere Frauen festgehalten. Der Hunger, der Durst. Die Ungewissheit über das weitere Schicksal, über das Verbleiben der Familienangehörigen. Schläge, Folterungen. Wieder Männer in Tarnuniform, mit Gesichtern, die man im zivilen Leben gekannt hat. Sie suchen sich aus, was ihnen gefällt. Mädchen, die kaum zwölf Jahre alt sind. Manche kommen nicht wieder zurück.
Es kann auch Azra Spahi ć treffen. Sie weiss nicht mehr, wie oft. Von wie vielen Männern hintereinander. Für die sexuellen Perversionen gibts keine Worte, nur schemenhafte Bilder. Die Frau, die vor ihren Augen mit einem Kopfschuss niedergestreckt wird, weil sie gegen die Vergewaltigung anderer Frauen protestiert. Das Wegbringen in Privatwohnungen. Die Soldaten, betrunken. Sie lachen. Los, auf den Tisch, bewegt euch, wir wollen unterhalten werden, etwas Spass haben! Die anderen zwei Frauen auf dem Tisch, ebenfalls unbekleidet. Mit Augen, die nicht mal mehr nach innen blicken können. Pistolenläufe, auf sie gerichtet. Die Todesangst, die längst der Todessehnsucht gewichen ist.
Ich hätte Frau Spahi ć dafür hassen können, wie sie mir das alles ohne die geringste Gefühlsregung an den Kopf warf. Ihre Schilderung erschütterte mich in meinen Grundfesten, in meinem Glauben an das grundsätzlich Gute im Menschen, ohne den mir ein Leben in einer Gesellschaft unerträglich erschien.
Als sie endlich damit aufhörte, lagen die fleischfarbenen Zigarettenstummel dichtgedrängt im Aschenbecher.
Ich erkannte meine Stimme nicht wieder, mit der ich diese entsetzliche Stille durchbrechen wollte, die eingetreten war, nachdem Frau Spahi ć s Schilderung ein Ende genommen hatte: «Und dann begegnen Sie eines Tages – Monate später, in einem fremden Land – einem dieser Männer auf der Strasse?»
«Er sass an einem Tisch im Bistro Fellini … Ich ging direkt an ihm vorbei.»
Sie lächelte. Natürlich, jetzt, nachdem sie mich in diesen Abgrund des Mitwissens gerissen hatte, fiel es ihr leicht zu lächeln.
«Ich glaube nicht, dass er mich erkannt hatte. Früher, wissen Sie, hab ich nie ein Kopftuch getragen. Die wenigsten Frauen unter fünfzig trugen Kopftücher. Auf dem Land konnte man das schon eher sehen, aber dort tragen auch die serbischen und die kroatischen Frauen Kopftücher. Jetzt vermittelt mir dieses Stück Stoff ein Gefühl von Sicherheit, von Schutz vor unerwünschten Blicken und Gedanken. Zuvor, glauben Sie mir, hab ich nie ein ähnliches Bedürfnis gehabt.»
Sie nahm einen Schluck vom längst erkalteten Tee. «Und dann gibt es noch einen weiteren Grund: Ich trage dieses Kopftuch als Protestnote. Es soll sagen, seht her, hier bin ich, der Schrecken der Menschheit. Ich, der ich eure europäischen Werte bedrohe … Haben Sie den Initiativtext der Schweizer Demokraten gelesen?»
«Was? Ah, die Einbürgerungsinitiative.»
«Dort steht wörtlich, diese sei notwendig, um den Import von ethnischen Problemen aus den Balkanstaaten in die Schweiz zu verhindern. Personen nicht christlicher Religionszugehörigkeit können die hiesigen Gesetze und Bräuche aufgrund ihrer andersartig religiösen Überzeugung nicht übernehmen.» Sie hatte einen bitteren Zug im Gesicht.
«Wussten Sie, dass die bosniakische Armee, das heisst die muslimische, als einzige bereit war, Bosnien und damit die gemeinsamen Werte der bosnischen Identität, des Zusammenlebens und der
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