Durst - Roman
Mann nicht daran erinnern, dass er sich und seine Partei dank dem Fall Slavkovi ć hatte profilieren können. Nachdem bekannt geworden war, dass die bürgerlichen Parteien den korrupten, bereits vorbestraften Wirtschaftsjuristen Eicher zum Staatsanwalt gewählt hatten, war ein Sturm der Entrüstung durch die Bevölkerung gegangen.
«Mal schauen, was ich machen kann.»
Zwei Wochen später hatte ich die Liste. Ich bedankte mich beim Sozialdemokraten und versicherte ihm, dass daraus niemandem Schaden erwachse.
Ich hatte mir im Vorfeld bereits die Bevölkerungsstatistik der Gemeinde Emmen besorgt, die jedermann zugänglich war. Der Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung war von achtzehn Prozent im Jahr 1990 auf aktuelle sechsundzwanzig Prozent angewachsen. Davon machten die Menschen aus den jugoslawischen Republiken den Hauptanteil aus, über fünzig Prozent. Mehr als ein Drittel davon, gegen tausendfünfhundert Menschen, waren bereits vor dem Krieg hier ansässig – ehemalige Saisonniers, die oft seit Jahrzehnten in der Schweiz lebten und dann des Kriegs wegen ihre Familien nachgezogen hatten. Die zweitgrösste Gruppe waren die Italiener mit achtzehn Prozent. Aus Bosnien selbst lebten rund sechshundertfünfzig Menschen in Emmenbrücke. Einer davon hatte die Briefe geschrieben.
Auf der gewünschten Liste fanden sich an die zweihundert Namen. Ich ging jene der im Jahr 1995 Eingewanderten durch, dem Jahr der kroatischen Rückeroberung der Krajina. Ich war nicht überrascht, dass Slavkovi ć s Name darin nicht vorkam. Wahrscheinlich würde er in der Statistik der aus Kroatien stammenden Zuzüger aufgeführt sein. Ich studierte die Daten aller Personen und markierte jene, wo als Herkunftsort Fo č a angegeben war. Am Schluss blieben sechs Namen übrig.
Azra Spahi ć wohnte kaum zweihundert Luftlinienmeter von mir entfernt in einem dieser funktionalistischen Hochhäuser, die für Emmenbrücke so charakteristisch sind. Vorbei am Denner und der chemischen Reinigung – deren Werbeschrift «Die gute chemische Reinigung» vom Schaufenster blätterte – kam ich zu dem markanten Gebäude, das zur Strasse hin auf wuchtigen Betonstelzen stand. Mein Blick glitt an der abgasgeschwärzten Fassade nach oben und ruhte für einen kurzen Augenblick auf einer orangen Sonnenstore, bevor ich die breite Treppe zum Eingang hinaufging. Ich sah die Tafel mit den Namensschildern durch und wunderte mich über die Weber und die Studer unter den vielen fremdländischen Namen. Ich stieg in den fünften Stock und klingelte.
Im ersten Moment war ich überrascht, dass die Frau, die mir öffnete, ein Kopftuch trug. Es wäre auch als Accessoire durchgegangen – das in Rottönen gehaltene, mit Spitzen besetzte Tuch liess den Ansatz ihrer Haare frei –, wäre die Frau ansonsten nicht eher nachlässig gekleidet gewesen: unförmiger, hellblauer Pullover und weite Jeans.
Nachdem ich die Schuhe ausgezogen hatte, bat sie mich, in der Küche an einem kleinen Tisch Platz zu nehmen. Sie trinke gerade Tee, ob sie mir auch eine Tasse einschenken dürfe.
Frau Spahi ć war sehr blass und sehr mager. Gewiss, sie war zierlich gebaut, trotzdem war sie weit unter ihrem Idealgewicht. Ich wusste nicht recht, wie verfahren. Bei unserem Telefongespräch hatte ich vorgegeben, im Zusammenhang mit dem «Emmer Kulturdach» Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien zu kontaktieren, die als Vermittler in verschiedenen Projekten mitwirken sollten. Ich behauptete, ihre Adresse von der Caritas erhalten zu haben, wo sie gelegentlich als Dolmetscherin arbeitete. Den Unterlagen der Einwohnergemeinde hatte ich zudem entnommen, dass sie den Hauptteil ihres Einkommens bei einem Reinigungsinstitut erwirbt, während sie vor dem Krieg am Gymnasium in Fo č a das Pflichtfach Serbokroatisch und das Zusatzfach Deutsch unterrichtet hatte. Spätestens da war ich mir sicher, dass es sich bei ihr um die gesuchte Person handelte.
Sie habe von diesem «Kulturdach» gehört, eine interessante Sache, wie sie fände.
Mir fiel auf, dass ihr Blick, wenn sie mich ansah, etwas Starres hatte. Da ich noch immer schwieg, fragte sie, worum es denn beim konkreten Projekt gehen würde.
Ich rang mit mir. Ich hatte keine Lust, sie noch länger zu belügen. Anderseits fürchtete ich, sie würde das Gespräch sofort beenden, wenn ich die Wahrheit sagte. Ich nahm einen Schluck vom Fencheltee, behielt ihn eine Weile im Mund und verschluckte mich. Bei der Art, wie sie die Stirn runzelte, kam ich mir
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