Ebbe und Glut
»Vielleicht sollte ich es mal riskieren.«
»Ist er denn nett?«
»Sehr. Er ist toll.«
»Dann solltest du es unbedingt versuchen!« Mia lächelte ihr ermutigend zu.
Henny grinste zaghaft zurück.
Auch Annikas Jahr begann mit Veränderungen. Matthias erzählte ihr in den Weihnachtsferien von seiner Affäre. Sie sei eine Kollegin, fünfzehn Jahre jünger und sehr attraktiv. Aber es sei nun vorbei, die Kollegin habe die Firma gewechselt und sich außerdem mit einem jüngeren Mann zusammen getan. Die Geschichte war so banal, so voller Klischees, dass Annika es kaum glauben konnte.
»Ich will dich nicht aufgeben«, sagte Matthias. »Ich will, dass wir uns Hilfe holen.«
Das wiederum kam so überraschend, dass Annika nicht wusste, was sie sagen sollte. Sie, die Expertin, versagte vollkommen, während ihr Mann vorschlug, einen Paartherapeuten aufzusuchen. Er war bereit, an der Beziehung zu arbeiten, Veränderungen vorzunehmen. Sie hingegen fürchtete sich davor.
»Ich denke darüber nach«, sagte Annika steif.
»Was gibt es da nachzudenken?«, fragte Matthias beunruhigt.
»Ich muss nachdenken, ob ich dir verzeihen kann.«
»Aber genau dafür ist so eine Therapie doch da.«
»Oho! Du willst zu einem Therapeuten gehen, um von ihm die Absolution zu erhalten? So funktioniert das garantiert nicht.«
»Wie funktioniert es denn dann?«
»Nur über Vertrauen. Und Liebe.«
Annika fuhr zu Mia. Sie hatten seit ihrem Streit keinen Kontakt mehr gehabt. Mia hatte Annika eine Weihnachtskarte geschickt, doch Annika reagierte nicht. Jetzt stand sie mit einem riesigen Blumenstrauß vor Mias Tür.
»Du meine Güte!«, rief Mia überwältigt und drückte Annika fest an sich.
»Kannst du mir verzeihen? Ich habe mich total idiotisch benommen«, sagte Annika.
»Natürlich verzeihe ich dir. Ich habe mich ja selbst total daneben benommen.«
Statt eines vollkommen verwachsenen Pagenschnitts trug Annika eine Kurzhaarfrisur mit neuem Blond. Sie sah jünger und eleganter aus.
Mia war begeistert. »Hey, die neue Frisur steht dir super!«
Annika lachte schief. »Du hattest ja auch recht. Ich sah furchtbar aus in letzter Zeit. Irgendwie hatte ich mich selbst total aufgegeben und habe mich gar nicht mehr als Frau gesehen.« Sie seufzte. »Kein Wunder, dass Matthias was mit einer jungen, schlanken Barbiepuppe hatte.«
»Ist das wahr?«
»Ja. Unfassbar, oder? Man denkt immer, so was passiert nur anderen Leuten.«
»Und jetzt?«
»Jetzt gehen wir zu einer Paarberatung. Ich bin sehr skeptisch, aber Matthias hofft, dass sich alles wieder einrenkt.«
»Wenn ihr das beide wollt, dann wird es auch geschehen«, sagte Mia und kam sich dabei entsetzlich alt und abgeklärt vor.
»Ist das nicht eine verrückte Zeit?«, fragte Annika. »Mir scheint, ab vierzig passieren seltsame Dinge. Alle Leute stellen ihr Leben plötzlich auf den Kopf und fangen an, etwas zu hinterfragen, das jahrelang gut funktioniert hat.«
»Das liegt daran, dass wir den Zenit unseres Lebens überschritten haben«, behauptete Mia. »Wenn es abwärts geht, werden die Leute seltsam.«
»Geht es denn abwärts?«
»Nur, was die Jahre betrifft. Der Rest geht durchaus noch mal sehr steil bergauf.«
Annika nickte, und dann lachte sie ihr helles, fröhliches Lachen, das Mia so lange an ihr vermisst hatte.
31
Beim Durchblättern des Hamburger Abendblattes fiel ihr Blick auf einen großen Artikel im Feuilleton. Den Erinnerungen auf der Spur – zum Tod von Boy Kessler .
Arthurs Vater. Er war nach einer nur kurzen Krankheitsphase an Krebs gestorben.
Oh je, dachte Mia bestürzt, noch ein Verlust für Arthur. Noch ein schwerer Abschied. Das Leben meinte es zurzeit nicht gut mit ihm. Sie erinnerte sich an seine Verzweiflung bei ihrer letzten Begegnung und konnte sich lebhaft vorstellen, wie schrecklich er sich fühlen musste.
Im Anzeigenteil fand sie eine große Traueranzeige der Familie. Mia zögerte, bevor sie sich den Termin der Trauerfeier notierte.
Sie war Boy Kessler überhaupt nie begegnet. Und von seinem Sohn hatte sie seit Ewigkeiten nichts mehr gehört und gesehen. Aber sie erinnerte sich lebhaft daran, wie dankbar Frank für ihren Beistand bei der Beerdigung seines Vaters gewesen war. Natürlich war Arthur nicht Frank. Vielleicht fühlte er sich durch Mias Anwesenheit belästigt. Andererseits würden so viele Leute zu der Trauerfeier erscheinen, dass nicht mal sicher war, ob er Mia überhaupt bemerken würde.
»Wieso sterben denn
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