Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ebbe und Glut

Ebbe und Glut

Titel: Ebbe und Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Burkhardt
Vom Netzwerk:
oder immer noch? - einen neuen Schnitt. War sie im letzten Jahr überhaupt irgendwann beim Friseur gewesen?
    »Ja, in gewisser Weise gilt das auch für uns«, sagte sie.
    »Und was bedeutet das?«
    »Dass ich für mich Klarheit gefunden habe. Was auch immer da geschehen ist oder noch geschieht, ich will es nicht wissen.«
    »Das ist nicht dein Ernst«, rief Mia entsetzt. »Du bist dir sicher, dass dein Mann dich betrügt und machst einfach die Augen davor zu?«
    »So kann man das natürlich auch sehen.« In Annikas Stimme schwang Ärger mit. »Was würde es mir denn bringen, wenn ich jetzt nachbohre und Matthias zur Rede stelle? Es kommt vielleicht etwas zutage, das so verletzend und demütigend wäre, dass es unsere Ehe ruinieren würde. Und dann? Wir trennen uns, müssen das Haus verkaufen, ich stehe mit den Kindern und all ihren Krisen alleine da. Ich muss mehr arbeiten und mich trotzdem finanziell einschränken. Und glücklicher als vorher werde ich dadurch auch nicht. Also – warum sollte ich das alles tun? Nur, um den kleinen Augenblick des Triumphs auskosten zu können, in dem ich Matthias mit einer sehr unangenehmen Wahrheit konfrontiere? Das ist es mir nicht wert.«
    Mia war erschüttert. Ausgerechnet Annika, die stets reflektierte Annika, die als Psychologin unzählige Ehen gekittet hatte, wollte kneifen.
    »Aber wie kannst du damit leben, dass dein Mann dich anlügt?«
    »Ach, wir lügen doch alle, mal mehr, mal weniger. In jedem Leben gibt es Dinge, die andere nicht erfahren dürfen, weil sie uns zu peinlich sind oder den anderen zu sehr verletzen würden, oder weil wir genau wissen, dass er sie nicht versteht. Ich glaube, der Anspruch, vom eigenen Ehepartner immer alles wissen zu wollen, ist Unfug.«
    »Kann es sein, dass du bloß Angst vor der Wahrheit hast?«, fragte Mia behutsam.
    »Verdammt noch mal, natürlich habe ich Angst. Was denkst du denn?«, brauste Annika auf. »Ich habe so viel Angst, dass ich kaum noch schlafen kann. Andererseits - was bedeutet so eine Affäre im Vergleich zu siebzehn Jahren Beziehung? Mal ehrlich, diese Liebschaften kommen und gehen doch in vielen Ehen. Wenn alle Frauen ihre untreuen Männer verlassen würden, läge die Scheidungsrate vermutlich bei achtundneunzig Prozent.«
    War das so? Gingen wirklich alle Männer fremd? Mia hatte sich früher der Illusion hingegeben, dass untreue Männer die Ausnahme und nicht die Regel waren. Und diese Männer erkannte man auf hundert Meter Entfernung. Wie naiv sie gewesen war, hatte Frank ihr sehr drastisch vor Augen geführt.
    Traute sie Matthias zu, dass er Annika betrog? Natürlich. Er sah gut aus, obwohl er auf Mia immer ein wenig langweilig wirkte. Aber vielleicht war er ganz anders, wenn seine Hormone verrückt spielten. Dazu kam, dass Annika sich immer mehr gehen ließ. Offenbar erlag sie dem Irrglauben, dass sie es nach siebzehn Jahren nicht mehr nötig hatte, ihren Mann auf sich aufmerksam zu machen.
    »Wenn du dir wenigstens mal eine anständige Frisur zulegen würdest …«
    »Was?«
    »Na ja … du achtest so wenig auf dich selbst …«, stammelte Mia verlegen. Sie hatte gar nichts über Annikas Frisur sagen wollen, die Worte rutschten ihr einfach so heraus und waren ihr sofort peinlich.
    »So ist das also.« Jetzt wurde Annika richtig wütend. »Wenn Männer fremdgehen, sind die Frauen schuld, weil sie nicht den ganzen Tag mit knappen Röckchen, aufreizender Wäsche und schicker Frisur herumrennen. Hast du eine Ahnung, wie mein Leben aussieht?« In ihrem Blick lag so viel Zorn, dass Mia erschrocken zurückwich. »Nein, du hast keine Ahnung davon, du hast ja keine Kinder. Du weißt nicht, was es bedeutet, immer funktionieren zu müssen, egal wie man sich fühlt. Du kannst dich auf dein Sofa setzen, wenn du von der Arbeit nach Hause kommst. Ich muss dann ein großes Haus in Ordnung halten, für vier Menschen einkaufen und kochen und mich mit den Sorgen und Nöten meiner Kinder befassen. Torben ist Legastheniker, und wie es um Nele steht, weißt du selbst. Du hast keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn dir jeden Morgen schon beim Anblick dieses kleinen, abgemagerten Körpers mit den erloschenen Augen das Herz blutet. Wenn du abends um zehn vor Erschöpfung auf dem Sofa einschläfst, statt dich mit deinem Mann durch die Laken zu wälzen. Du kannst dich in deinen eigenen Befindlichkeiten suhlen, so lange es dir passt. Als Frank dich verlassen hat, hast du dich monatelang selbst beweint. Monatelang . Ich könnte das nicht

Weitere Kostenlose Bücher