Echo: Roman (German Edition)
wahrscheinlich mehr als ein Jahrhundert. Sein Haar verlor allmählich die Farbe, war aber kräftig wie kurz geschorenes Gras und stand so vom Kopf ab, dass es ihn sogar noch größer erscheinen ließ. Er hatte einen ordentlich gestutzten Schnurrbart und gab sich keinerlei Mühe, seine Missbilligung darüber zu verbergen, wie Alex seinen Lebensunterhalt verdiente. Für Wilson wie für viele andere Angehörige der akademischen Gemeinde war Alex weiter nichts als ein überschätzter Grabräuber.
Alex hatte mich wissen lassen, dass Wilson zurückrief. Doch das Gespräch war bereits im Gange, als ich das Chefbüro auf der Rückseite des Hauses betrat.
»... nicht spätkorbanisch« , erklärte Wilson gerade. Er saß in seinem Büro hinter einem Namensschild. An der Wand hinter ihm hingen gut sichtbar allerlei Auszeichnungen. Mann des Jahres bei der Linguistischen Gesellschaft des Nordens. Gilbertpreis für seine historischen Forschungen. Brisbane Award für sein Lebenswerk.
»Peer«, sagte Alex, »Sie erinnern sich an meine Kollegin Chase Kolpath? Chase, Professor Wilson.«
»Ja, gewiss.« Er lächelte höflich. »Ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet, nicht wahr?« Dann kehrte er zum Thema zurück, ohne eine Antwort abzuwarten, die gelautet hätte: Ja, einige Male sogar schon. »Nein, es gibt zwar eine geringfügige Ähnlichkeit mit den Codas im Korbanischen, aber die ist nur sehr oberflächlich.«
»Professor, haben Sie eine Ahnung, um welche Sprache es sich handeln könnte?«
»Darf ich fragen, wo das Objekt derzeit ist?«
»Im Besitz einer Klientin.«
»Ich verstehe. Und sie weiß nicht, was das ist?«
»Die Eignerin ist eine junge Frau. Und, nein, anscheinend hat sie keine Ahnung.«
»Ja, nun, ich würde mir wegen dieser Tafel keine allzu großen Hoffnungen machen, Alex. Ich nehme an, Sie möchten, dass ich ein paar Nachforschungen für Sie anstelle?«
»Wenn Sie so freundlich wären.«
»Üblicherweise erwarte ich ein Beratungshonorar. Aber weil Sie es sind ...« Seine Lippen umspielte ein herablassendes Lächeln.
»Schwachkopf!«, meinte Alex und blickte auf. »Chase, ich habe gerade die früheren Eigentümer von Gold Range Nr. 12 ermittelt.«
»Und ...?«
»Haus und Grundstück haben einmal Somerset Tuttle gehört.«
»Tuttle? Der Typ, der Sunset genannt wurde? Der immer auf der Suche nach Außerweltlern war?«
»Genau der.«
»Der ist schon ziemlich lange tot, oder?«
»Ungefähr fünfundzwanzig Jahre. Plus-minus.«
»Glaubst du, die Tafel gehörte ihm?«
»Wäre möglich.«
»Wenn sie ihm gehört hat«, sagte ich, »dann ist die Sprache vielleicht gar nicht mehr wichtig.«
»Wieso?«
»Wenn Tuttle die Steintafel an einer archäologischen Stätte gefunden hätte und sie wertvoll gewesen wäre, hätte er das bestimmt gewusst. Ich bezweifle, dass sie dann als Rasenschmuck geendet wäre.«
»Das hört sich durchaus logisch an. Trotzdem kommt es mir komisch vor, dass Tuttle sie auf dem Grundstück behalten hat. Sehen wir uns die Sache einfach mal an.«
»Okay, Alex. Ganz wie du meinst.«
Er belächelte meine Skepsis. »Es sind schon merkwürdigere Dinge passiert, junge Dame!«
»Wie ist Tuttle gestorben, Alex?«
Wir waren immer noch in seinem Büro, das im hinteren Bereich des Landhauses lag. Aus der Musikanlage perlte eine beschwingt-heitere Sinfonie. Alex lümmelte sich auf dem opulenten Sofa, das er von seinem Onkel geerbt hatte. »Sunset Tuttle ist gern gesegelt und war oft auf dem Melony. Eines Tages ist er in einen Sturm geraten. Der Wind hat eine Spiere erwischt und herumgerissen. Tödliche Kopfverletzung. Er war allein, aber es gab Zeugen auf einem anderen Boot. Sie sind so schnell rüber, wie sie konnten, aber ...« Alex zuckte mit den Schultern. »Tuttle galt als zerstreut, gedankenverloren. Als jemand, der nicht richtig auf das achtete, was er tat. Zum Zeitpunkt seines Todes war er hundertneununddreißig Jahre alt. Ich frage mich, ob möglicherweise ...«
»Ob was möglicherweise, Alex?«
»Ob die Tafel vielleicht von einer außerweltlichen Stätte stammt.«
Ich lachte. »Also hör mal, Alex, es gibt keine Außerweltler!«
»Und was ist mit den Stummen?«
»Die Stummen zählen nicht.«
»So? Ach und warum?«
Ich gab auf. Alex gab sich gern aufgeschlossen. Aber meiner Ansicht nach war er ein bisschen zu aufgeschlossen. »Also, was denkst du?«, fragte ich.
»Tja, ich weiß es nicht. Es ergibt keinen Sinn. Tuttle hat sein ganzes Leben mit der Suche nach
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