Edelherb: Roman (German Edition)
mich in den Sohn des amtierenden Staatsanwalts zu verlieben.« Ich löste mich von ihm. »Aber es war dein Fehler, mir nachzustellen.«
Win gab mir einen Kuss. »Und wie.«
»Warum hast du das überhaupt getan? Mir nachstellen, meine ich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dir immer wieder gesagt habe, du sollst mich in Ruhe lassen.«
Win nickte. »Nun, das ist eigentlich ganz einfach. Als ich dich zum ersten Mal sah, hast du einen Teller Spaghetti …«
»Das war Lasagne«, unterbrach ich ihn.
»Na gut: Du hast Lasagne auf Gable Arsleys Kopf gekippt.«
»Nicht meine beste Aktion.«
»Aber mir gefiel dein Aussehen, und ich fand es gut, dass du für dich selbst eintrittst.«
»So einfach?«
»Ja, so war das. Solche Dinge sind meistens einfach, Annie. Mir war klar, dass dein Freund und du getrennte Wege gehen würdet. Ich wusste, dass du bei Schulschluss im Büro der Rektorin sitzen würdest, deshalb suchte ich einen Vorwand, um selbst hinzugehen.«
»Bewundernswert scheinheilig von dir.«
»Ich bin der Sohn meines Vaters«, sagte er.
»War es das denn auch wert? Am Ende wurde auf dich geschossen.« Ich schlang die Arme um seine Taille.
»Das war nichts. Eine Fleischwunde. Hat es sich für dich gelohnt? Die ganzen Probleme, die ich dir gemacht habe. Manchmal fühle ich mich fast« – er hielt inne – »schuldig.«
Ich dachte darüber nach.
Liebe.
Es gab so viele Arten von Liebe. Manche währten für immer, so wie die Liebe, die ich für Natty und Leo empfand. Und andere? Nun, man wäre dumm, wenn man versuchen würde zu raten, wie lange sie halten würden. Aber auch die Liebe, die nicht für immer hielt, war nicht bedeutungslos.
Denn letzten Endes wurde das ganze Leben davon bestimmt, wen und was und dass man liebte. Und wenn es um Liebe ging, man konnte nicht leugnen, dass ich mehr als genug bekommen hatte: von Nana, Daddy, meiner Mutter. Leo, Natty, Win, sogar von Theo. Und von Scarlet.
Scarlet.
Ich runzelte die Stirn.
»Du ziehst ein Gesicht«, sagte Win.
»Mir ist gerade klargeworden, dass ich Scarlet verzeihen muss.«
Ich schaute ihn an, er erwiderte den Blick.
»Was ich eigentlich meine, ist, dass ich sie um Verzeihung bitten muss.«
»Das finde ich vernünftig.«
»Deine Rede heute hat mir gefallen«, sagte ich.
»Das weiß ich zu schätzen«, entgegnete Win. »Willst du wirklich nicht, dass ich in New York bleibe?«
»Natürlich möchte ich, dass du bleibst … Ich will nur nicht, dass du mich irgendwann hasst.«
»Ich könnte dich niemals hassen. Das ist für mich so unmöglich, wie eine Drehtür zuzuschlagen. Ich bringe Natty und dich nach Hause.« Er pflückte eine Blüte vom Spalier und schob sie mir ins Haar. Der Sommer war gekommen.
XX. Ich plane für die Zukunft
Mein Vater hasste den Sommer, weil der Sommer die schlimmste Zeit des Jahres für den Verkauf von Schokolade war. Die Hitze machte den Vertrieb zur Herausforderung. Ein verspäteter Zug oder ein ausfallender Kühl-Lkw konnte bedeuten, dass gesamte Ladungen schmolzen und vernichtet werden mussten. Daddy hatte immer gesagt, dass die Menschen im Sommer eh den Geschmack für Schokolade verloren – Schokolade sei ein Lebensmittel für kaltes Wetter, in der Hitze würde man lieber Eiscreme oder Wassermelonen essen. Die Frachtkosten, die zu jeder Jahreszeit hoch waren, stiegen im Sommer ins Unermessliche. Nach Ansicht meines Vaters war die einzige Lösung, die die Sommermonate deutlich erleichtert hätte, wenn es erlaubt gewesen wäre, die Schokolade im Land herzustellen (»Sicher, wir dürfen sie hier nicht verkaufen, aber wen soll es kümmern, wenn wir sie hier produzieren?«). Ich weiß, dass mein Vater sich außerdem öfter ausmalte, Balanchine Chocolate könne von Mai bis September eine Auszeit einlegen. Doch kaum hatte er das ausgesprochen, schüttelte er auch schon den Kopf: »Funktioniert nicht, Annie. Wenn wir die Menschen zwingen, drei Monate ohne Schokolade auszukommen, verlieren sie vielleicht gänzlich den Appetit darauf. Der amerikanische Markt ist so launenhaft wie das Herz eines Teenagers.« Damals war ich noch kein Teenager, weshalb ich mich nicht an seinem Vergleich störte.
Obgleich es Juni war, ging mir nichts von alldem durch den Kopf. Meine dringendste Sorge war, Natty beim Packen für ihren zweiten Sommer im Hochbegabten-Lager zu helfen. Gerade legte ich ein T-Shirt zusammen, als das Telefon klingelte.
»Hast du’s schon gehört?« Der Anrufer machte sich nicht die Mühe, seinen Namen
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