Edelherb: Roman (German Edition)
gegeben.«
Eine Weile schwieg Charles Delacroix. »Seit du mich angerufen hast, habe ich über die Sache nachgedacht, und ich würde dir gerne dabei helfen. Und weil ich Respekt vor dir habe, will ich absolut ehrlich sein, was meine Motive angeht. Ich helfe dir nicht, weil ich Schokolade oder dich so gerne mag, obwohl das zutrifft. Tatsache ist, dass ich momentan ein Versager bin. Doch wenn ich den Menschen die Schokolade zurückgebe, werde ich ein Held. Was gäbe es für eine bessere Ausgangsposition, um mich wieder als Staatsanwalt oder sogar für eine höhere Aufgabe zu bewerben?«
Ich nickte.
»Und warum möchtest du, dass ich dir helfe?«, fragte Charles Delacroix.
»Wissen Sie das noch nicht? Sie wissen doch sonst immer alles.«
»Tu mir den Gefallen!«
»Weil Sie den Ruf haben, moralisch sauber zu sein und immer auf der Seite des Guten zu stehen, und wenn Sie sagen, die Sache ist erlaubt, dann werden die Menschen Ihnen auch glauben. Wenn ich eines in den Monaten gelernt habe, als ich fort war, dann dass ich mich auf gar keinen Fall mein Leben lang verstecken will, Mr. Delacroix.«
»Schön«, sagte er. »Das leuchtet ein.« Er hielt mir seine Hand hin, zog sie aber wieder zurück. »Bevor wir die Sache besiegeln, musst du noch etwas wissen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand davon weiß, aber wenn es mal herauskäme, möchte ich nicht, dass du schockiert bist: Ich habe dich im letzten Herbst vergiftet.« Er sagte das so, als würde er mich bitten, ihm den Zucker zu reichen.
»Wie bitte?«
»Ich habe dich im letzten Herbst vergiftet, aber ich sehe darin keinen Grund, nicht mit dir zusammenzuarbeiten. Ich versichere dir, dass ich die besten Absichten hatte und du niemals wirklich in Gefahr warst. Vielleicht war es starrköpfig von mir, aber ich wollte nicht, dass du in Liberty in den großen Mädchenschlafsaal musst, sondern dass du auf der Krankenstation bist, einem Ort, den du meiner Meinung nach besser zur Flucht nutzen konntest.«
»Wie?«, stammelte ich.
»Das Wasser, das ich dir gab, als wir uns im Keller unterhielten, war mit einer Substanz versetzt, die einen Herzinfarkt auslösen kann.«
Ich war zwar überrascht, aber weniger schockiert, als man hätte denken können. Ich sah ihn an. »Sie sind skrupellos.«
»Nur ein bisschen. Und für dich werde ich genauso sein.«
Wenn es in meinen letzen beiden Lebensjahren einen offiziellen Feind gegeben hätte, wäre es Charles Delacroix gewesen. Was hatte Daddy mal gesagt? »Das Spiel ändert sich, Anya, und die Spieler auch.« Ich hielt diesem Mann die Hand hin, und er ergriff sie. Wir begannen, eine Liste all der Dinge zusammenzustellen, die wir in Angriff nehmen mussten.
Am nächsten Morgen setzte ich Natty in den Zug, der sie ins Sommerlager brachte, und am Nachmittag rief mich Charles Delacroix an. Er sagte, auch wenn es vielleicht zu früh sei, so eine Entscheidung zu treffen, und auch wenn das möglicherweise nicht in seinen Zuständigkeitsbereich falle, wäre er in Midtown auf einen möglichen Verkaufsraum gestoßen. »Ecke 40 th und Fifth Avenue«, sagte er.
»Das ist ja mitten im Zentrum«, erwiderte ich.
»Ich weiß«, sagte er. »Darum geht es ja. Wir treffen uns draußen vor dem Gebäude.«
Abgesehen von seiner Enormität, bestach das Bauwerk durch zwei mit Graffiti beschmierte liegende Löwen rechts und links der Freitreppe. »Ah, das Gebäude kenne ich«, sagte ich zu Mr. Delacroix. »Hier war früher ein Nachtclub, der hieß ›Die Höhle des Löwen‹. Wir sind da nie gern hingegangen, weil es furchtbar dort war und weil das Little Egypt näher war.«
Charles Delacroix sagte, offenbar sei der Nachtclub so furchtbar gewesen, dass er endgültig dichtgemacht hätte.
Wir gingen eine große Freitreppe hinauf, dann durch einen Säulengang. Eine Maklerin wartete auf uns. Sie trug ein rotes Kostüm und hatte sich eine verwelkte Nelke ins Knopfloch gesteckt. Zweifelnd sah sie mich an. »Ist das die Klientin? Sieht noch sehr jung aus.«
»Ja«, sagte Charles Delacroix. »Das ist Anya Balanchine.«
Als die Maklerin meinen Namen hörte, zuckte sie zusammen. Dann reichte sie mir die Hand. »Bei Ihrem Budget können wir Ihnen nicht die gesamten Geschäftsräume vermieten, aber wir haben einen großen Raum hier, der vielleicht zu Ihren Bedürfnissen passt.«
Sie führte uns hoch in den zweiten Stock. Der Raum war knapp dreißig Meter breit und hundert Meter lang, dazu über fünfzehn Meter hoch. Rundbogenfenster zogen sich
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