Edelherb: Roman (German Edition)
ich kein Bedürfnis, auch dieser zu lauschen. Irgendwann kam ich zu dem Schluss, wir seien lange genug geblieben, so dass es nicht mehr unhöflich war, sich zu verabschieden.
»Geh noch nicht«, sagte Win. »Du willst doch nur nach Hause und über Scarlet und Arsley nachgrübeln.«
»Ich grübel nicht.«
»Ach, komm!«, sagte er. »Meinst du nicht, dass ich dich ein klein wenig kenne?« Er glättete die Furchen, die sich auf meiner Stirn gebildet haben mussten.
»Das ist nicht das Einzige, worüber ich grüble, weißt du«, gab ich zurück. »Ich bin nämlich sehr tiefgründig und habe enorme Probleme.«
»Das weiß ich. Aber zumindest hat du nicht das Problem, dass dein Freund weit weg aufs College geht.«
Ich fragte ihn, was er damit meinte.
»Hast du bei Dads Rede gar nicht zugehört? Ich habe beschlossen, in New York zum College zu gehen. Das bedeutet, ich besuche Dads Alma mater, was ihn freut. Ich würde lieber nichts tun, was ihn freut, aber …« Win zuckte mit den Schultern.
Ich machte einen Schritt nach hinten. »Du willst doch damit nicht sagen, dass du wegen mir hierbleibst?«
»Natürlich meine ich das damit. Eine Uni ist so gut wie die andere.«
Ich erwiderte nichts. Stattdessen fingerte ich an meiner Halskette herum.
»Du bist nicht so erfreut, wie ich gedacht hatte.«
»Aber Win, ich habe dich nicht gebeten, hierzubleiben. Ich will einfach nicht, dass du irgendwas tust, was du nicht willst. Die letzten zwei Jahre haben mir gezeigt, dass es das Beste ist, über den aktuellen Moment hinaus nicht zu viele Pläne zu machen.«
»Das ist Schwachsinn, Anya. Das glaubst du selbst nicht. Du denkst immer an deinen nächsten Schachzug. Das gehört zu den Dingen, die ich an dir mag.«
Natürlich hatte er recht. Der wahre Grund, warum ich nicht wollte, dass er blieb, war zu schwer auszusprechen. Win war ein anständiger Kerl – vielleicht der anständigste, den ich je gekannt hatte –, und ich wollte nicht, dass er in New York blieb, weil ich ihm leidtat oder weil er eine unangebrachte Verpflichtung mir gegenüber spürte. Wenn er das tat, würde er es später nur bereuen.
Seit ich die Sache mit Simon Green wusste, hatte ich ein wenig über die Ehe meiner Eltern nachgedacht. Meine Mutter und mein Vater hatten sich in dem Jahr vor Mutters Tod ständig gestritten. Einer der größten Streitpunkte zwischen ihnen war, dass sie bedauerte, ihre Stelle bei der NYPD aufgegeben zu haben, und wieder zurück ins Arbeitsleben wollte – was natürlich unmöglich war angesichts dessen, womit mein Vater sein Geld verdiente. Mir war wichtig, dass Win mir nicht irgendwann dasselbe vorwerfen würde.
»Win«, sagte ich. »Wir haben gerade ein paar schöne Monate gehabt, aber ich weiß nicht, was nächste Woche mit mir passiert, vom nächsten Jahr ganz zu schweigen. Und du weißt das genauso wenig.«
»Ich schätze, ich muss es drauf ankommen lassen.« Er betrachtete mein Gesicht. »Du bist irgendwie ein komisches Mädchen«, sagte er und lachte dann. »Ich habe dich nicht gebeten, mich zu heiraten, Anya. Ich versuche nur, in deiner Nähe zu sein.«
Bei dem Wort
heiraten
zuckte ich zusammen.
»Dabei war es mir bis jetzt so gut gelungen, dich von Scarlets Eheschließung abzulenken.«
Ich verdrehte die Augen. »Was ist bloß in sie gefahren?«
Win zuckte mit den Schultern. »Nichts. Abgesehen davon, dass das Leben schwer ist. Und kompliziert.«
Ich wollte wissen, ob er auf ihrer Seite stehe, und er erwiderte, da gäbe es keine Seiten. »Ich weiß nur eins über Scarlet Barber, nämlich dass sie deine beste Freundin ist.«
Scarlet Barber mochte noch meine Freundin gewesen sein, doch bald wäre sie Scarlet Arsley.
Wins Mutter zog ihren Sohn fort, damit er sich mit den anderen Gästen des Brunchs unterhielt. Ich musste ihm versprechen, noch etwas länger zu bleiben. Natty schien ihren Spaß zu haben – sie redete mit einem süßen Cousin von Win –, deshalb ging ich hoch auf die Dachterrasse. Es war ungewöhnlich warm, so dass sich niemand dort draußen aufhielt. Das letzte Mal war ich an jenem lange zurückliegenden Frühlingstag dort gewesen, als ich mit Win Schluss machte.
Ich setzte mich auf die Bank. Mrs. Delacroix hatte ein Gitter aufgestellt, an dem Erbsen emporrankten. Sie hatten kleine weiße Blüten, die mich an die Blüten der Kakaopflanzen in Mexiko erinnerten. Ich war froh, in New York zu sein – mich nicht verstecken zu müssen –, aber Mexiko fehlte mir dennoch. Vielleicht nicht das
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