Edelweißpiraten
möglich. Es ist das einzige Ende, das zu Leuten wie Flint und Kralle passt.
Flint als alter Mann?, hab ich gedacht, als mir die Zeit mit ihm noch mal durch den Kopf ging. Und dann musste ich lachen. Unvorstellbar!
1. März 1945
Die Edelweißpiraten gibt’s nicht mehr. Unser Käptn ist tot! Es ist keiner mehr da, der das Schiff steuert. Tom, Flocke, Frettchen und ich: Wir sind nur noch vier Leute, die versuchen, irgendwie zu überleben. Das ist alles – mehr ist uns nicht geblieben.
Vor ein paar Tagen hat Frettchen gesagt, er wüsste, wo wir ’ne Zeit lang unterkriechen können. Er war bei seiner Mutter, um zu sehen, wie’s ihr geht, die hat’s ihm erzählt. Dass es in der Südstadt ’ne Kirche gibt, die zwar seit letztem Jahr in Trümmern liegt, dass drunter aber ein uraltes Gewölbe ist, in dem der Pfarrer Juden und Deserteure versteckt. Und andere Leute, die vor den Nazis auf der Flucht sind. Auch wie wir Kontakt mit ihm aufnehmen können, hat sie gewusst.
Wir haben nicht lange überlegt und sind zu dem Pfarrer gegangen. Als er unsere Geschichte gehört hat, wollte er’s erst gar nicht glauben. Er hat uns lange in die Augen gesehen, einem nach dem anderen. Dann hat er keine Fragen mehr gestellt, sondern uns aufgenommen.
Seit drei Tagen ist das Gewölbe unter seiner Kirche jetzt unser neues Zuhause. Ein paar Dutzend Leute verstecken sich hier, viele haben seit Monaten kein Tageslicht mehr gesehen. Manche sprechen nicht, so schlimme Sachen haben sie erlebt. Der Pfarrer und ein paar Frauen aus seiner Gemeinde kümmern sich um sie. Versorgen sie mit Nahrungsmitteln und passen auf, dass keiner durchdreht.
Frettchen hat schon immer was für die Kirche übrig gehabt. Er hat nie groß drüber geredet, wahrscheinlich war’s ihm peinlich, aber abgestritten hat er’s auch nicht. Wir anderen haben mit Religion
und so nicht viel am Hut. Die ganzen Sachen, die passiert sind, waren ja auch nicht so, dass man unbedingt an den lieben Gott glauben muss. Aber dieser Pfarrer und die Frauen, die ihm helfen, die sind verdammt in Ordnung. Sie tun alles für die Leute hier unten. Ich glaub, wenn das Versteck aufflög, würden sie sich glatt vor sie stellen und sich abknallen lassen, wenn sie sie dadurch retten könnten. Es tut gut, so was zu sehen. Und dann spielt’s eigentlich auch keine Rolle, ob’s den Kerl da oben nun wirklich gibt oder nicht.
Im Gegenzug dafür, dass wir in dem Gewölbe unterkriechen dürfen, machen wir uns nachts auf die Socken und treiben für die Leute was Essbares auf. Erfahrung damit haben wir schließlich genug, da macht uns keiner was vor. Der Pfarrer ist froh, dass wir ihm in der Richtung ein bisschen zur Hand gehen. Er sagt, Diebstahl ist zwar ’ne Sünde, aber in dem Fall ’ne gute Sünde. Nur wie wir’s genau machen, sollen wir ihm nicht erzählen, darüber will er gar nichts wissen.
Und noch ’ne zweite Aufgabe haben wir gefunden. Vor ein paar Tagen ist bei einer von den Frauen ein kleiner Junge abgeliefert worden. Sie sagt, er wär nach ’nem Bombenangriff ganz verwirrt durch die Straßen gelaufen. Wahrscheinlich ist seine Familie umgekommen, und er ist jetzt allein. Der Pfarrer hat gefragt, ob wir uns um ihn kümmern können. Er hätte im Moment sonst keinen dafür, und es wär ja nur für ’ne Zeit, bis sie ’ne bessere Lösung finden.
Flocke hat sofort ja gesagt, und wir anderen hatten auch nichts dagegen. Der Kleine ist zwar ganz verstört und redet nicht viel – wir wissen nicht mal seinen Namen –, aber wenn’s ihm besser geht, ist er bestimmt ein netter Kerl. Und es ist gut, dass er da ist. Mit ihm kommt einem nicht mehr alles so sinnlos vor. Jetzt gibt’s wieder was, wofür es sich lohnt. Wenn’s auch nur ’ne Kleinigkeit ist.
6. März 1945
Plötzlich ist er vorbei, der Krieg. Immer näher sind die Alliierten gerückt, und jetzt sind sie da. Die Wehrmacht ist auf die andere Rheinseite geflohen, auch von der Gestapo und der SS ist nichts mehr zu sehen. In der Nacht haben sie die letzte Brücke gesprengt, die noch stand. Damit ihnen keiner folgen kann. Jetzt sind sie verschwunden.
Kaum haben wir davon gehört, sind wir aus dem Gewölbe nach oben und durch die Straßen gelaufen. Was wir da gesehen haben, war unheimlich. Überall kamen Leute wie Gespenster aus den Trümmern und Kellern gekrochen. Grau sind sie gewesen, mit eingefallenen Gesichtern und Augen wie Löchern. Die meisten haben nur dagestanden und zum Himmel hochgesehen. So als wenn sie nicht glauben
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