Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
nichts wahrzunehmen. Ich drehte das Blatt um. Abermals ließ ich den Zeigefinger vorsichtig darübergehen und bemerkte bald, daß ihm ein leichter Schimmer nachzufolgen schien. Es kam, das wußte ich, von einigen winzigen Teilchen des Phosphors her, mit dem ich vorher das Papier bedeckt hatte. Nur auf der unteren Seite konnte also die Schrift (falls eine solche vorhanden war) sich befinden. Wieder kehrte ich das Blatt um, behandelte es in gleicher Art; wie früher zeigte sich das Leuchten, und jetzt erschienen mehrere Zeilen in einer großen Handschrift, und zwar mit roter Tinte geschrieben. Der Schimmer war stark genug, verschwand aber augenblicklich. Dennoch hätte ich Zeit gehabt, die drei Sätze durchzulesen, denn drei waren es, wäre ich nicht so furchtbar aufgeregt gewesen. In meiner Hast, alles auf einmal lesen zu wollen, erfaßte ich nur die Schlußworte, und diese lauteten:
»– – – Blut – wenn Dir Dein Leben lieb ist, bleib still liegen.«
Hätte ich den vollständigen Inhalt dieser Mitteilung, die ganze Bedeutung der Mahnung meines Freundes in mich aufnehmen können, so würde die Enthüllung von Geschehnissen voll unerhörten Unheils mich nicht mit einem Zehntel jenes peinigenden und dabei rätselreichen Grauens erfüllt haben, das dies Bruchstück einer Warnung in mein Gemüt pflanzte. »Blut« noch dazu, dies Wort vor allen Worten – zu jeder Zeit so gesättigt mit Geheimnissen, Schrecknissen und Leiden –, wie erschien es jetzt so dreifach bedeutsam, wie schwer und kalt (losgelöst von irgendwelchen vorangeschickten Worten, die es näher bestimmen oder klarmachen könnten) fiel diese unsichere Silbe, inmitten der tiefen Finsternis meines Kerkers, in die geheimsten Abgründe meiner Seele!
Augustus hatte wohl einen triftigen Grund, zu wünschen, daß ich verborgen bliebe, und ich erdichtete tausend Vermutungen, welcher es wohl sein könnte; aber ich vermochte keine befriedigende Lösung des Rätsels auszudenken. Kurz vor meinem letzten Gang nach der Falltür und bevor meine Aufmerksamkeit durch Tigers wunderliches Benehmen abgelenkt worden war, hatte ich beschlossen, mich um jeden Preis den Leuten auf Deck bemerkbar zu machen oder, falls mir das nicht sogleich gelingen sollte, mir einen Weg durch das Gerümpel zu bahnen. Daß ich ziemlich sicher war, mein Ziel so oder so zu erreichen, hatte mir den zum Ertragen meiner übeln Lage notwendigen Mut (den ich sonst nicht besessen haben würde) eingeflößt. Die paar Worte, die ich hatte lesen können, raubten mir jetzt jene letzte Zuversicht, und zum ersten Male empfand ich all das Grauenhafte meines Loses. In einem Ausbruch der Verzweiflung warf ich mich wieder auf die Matratze; dort lag ich wohl einen Tag und eine Nacht, in einer Art Betäubung, die nur durch kurze Augenblicke der Vernunft und des Rückerinnerns unterbrochen wurde.
Endlich erhob ich mich noch einmal und sann den Schrecknissen nach, die mich umgaben. Weitere vierundzwanzig Stunden ohne Wasser zu leben, würde mir unmöglich sein. Während der ersten Zeit meiner Gefangenschaft hatte ich von den geistigen Getränken, mit denen mich Augustus versah, eifrigen Gebrauch gemacht; jetzt aber verschlimmerten sie nur das Fieber, ohne den Durst im geringsten zu löschen. Mir blieb nur noch eine Viertelpinte übrig, und das war eine Art starken Pfirsichschnapses, gegen den mein Magen sich auflehnte. Die Würste waren völlig aufgezehrt, vom Schinken war nur ein kleines Stückchen Haut übrig, und der Schiffszwieback war bis auf einige Krumen von Tiger gefressen worden. Dazu kam noch, daß mein Kopfschmerz sich beständig verschlimmerte und mit ihm eine Art Delirium, das mich mehr oder weniger seit jenem ersten Einschlafen gefangenhielt. Während einiger Stunden hatte ich nur ganz mühsam atmen können, und jetzt war jeder Versuch mit einem höchst niederdrückenden krampfhaften Vorgang in der Brust verbunden. Allein es gab noch eine andere, von den genannten sehr verschiedene Ursache für meine Beunruhigung, deren folternde Schrecken es in der Tat vermocht hatten, mich aus meinem stumpfsinnigen Brüten zu reißen. Diese Ursache lag in dem Benehmen meines Hundes.
Ich bemerkte zuerst eine Veränderung in seinem Gehaben, als ich zum letzten Male jenes Blatt mit Phosphor einrieb. Er stieß dabei mit einem leichten Knurren die Nase gegen meine Hand; aber ich war in jenem Moment zu aufgeregt, um dem Umstand große Beachtung zu schenken. Dann warf ich mich, wie man sich erinnern dürfte, auf die
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