Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
südwärts ziehende Strömung. Die Temperatur der Luft betrug siebenundvierzig, die des Wassers vierunddreißig Grad. Nun segelten wir südwärts ohne irgendeine wichtige Unterbrechung, bis zum Sechzehnten; an diesem Tag sondierten wir wieder und fanden noch immer eine südwärts gerichtete Strömung, die mit der Geschwindigkeit von dreiviertel Meilen in der Stunde hinfloß. Die Abweichung des Kompasses hatte sich wieder verringert, die Luft war mild und angenehm, das Thermometer zeigte einundfünfzig Grad. Von Eis war nicht die Spur zu sehen. Alle Leute an Bord waren nunmehr gewiß, daß wir den Pol erreichen würden.
17. Januar. Dieser Tag war voll von merkwürdigen Vorkommnissen. Ungezählte Scharen von Vögeln flogen von Süden her über uns hin, einige wurden vom Deck aus geschossen; einer davon, eine Art Pelikan, gab eine leckere Mahlzeit ab. Um die Mittagszeit erblickte man ein kleines Feld auf der Backbordseite des Schiffes, und auf ihm schien sich ein großes Tier zu bewegen. Das Wetter war mild und fast ohne Wind; Kapitän Guy sandte zwei Boote aus, um die Sache näher zu untersuchen. Dirk Peters und ich begleiteten den Oberbootsmann im Großboot. Als wir mit dem Eisfeld in einer Linie waren, erkannten wir in seinem Insassen ein riesenhaftes Geschöpf von der Rasse der arktischen Bären, aber weit größer als die gewaltigsten dieser Gattung. Wir waren gut bewaffnet und zögerten nicht, das Tier anzugreifen. Mehrere Schüsse folgten rasch aufeinander, Kopf und Leib schienen mehrfach getroffen. Trotzdem warf sich die Bestie vom Eis herab ins Meer und schwamm mit geöffnetem Rachen auf unser Boot zu. Infolge des Durcheinanders, das diese unerwartete Wendung der Dinge erzeugte, war keiner in Bereitschaft, neue Schüsse abzugeben, und der Bär hatte schon die Hälfte seines Riesenkörpers über das Schandeck des Bootes gewälzt und einen der Mannschaft im Rücken erfaßt, bevor man sich zur Abwehr aufzuraffen vermochte. In dieser Notlage rettete uns nur die Gewandtheit und Geistesgegenwart Dirk Peters‘ vor dem Untergang. Er sprang mit einem Satz auf den Rücken des Untiers und stieß ihm sein Messer tief hinter den Nacken, so daß er das Rückenmark traf. Das Vieh kollerte, ohne Widerstand, völlig verendet ins Meer und rollte in seinem Sturz über Peters hin, so daß er mitgerissen wurde; doch erholte er sich rasch, ließ sich ein Tau zuwerfen und befestigte daran die Beute, ehe er ins Boot kletterte. Nun kehrten wir im Triumph zurück, das erlegte Untier nachschleppend. Der Bär maß in seiner größten Länge volle fünfzehn Fuß. Seine Wolle war völlig weiß, sehr grob und lockig. Die Augen hatten eine blutrote Farbe und waren größer als die des nordischen Eisbären; seine Schnauze rundete sich stärker und gemahnte an die Schnauze einer Bulldogge. Das Fleisch war zart, aber von sehr tranigem und fischartigem Geschmack; die Leute verzehrten es gierig und nannten es ein köstliches Gericht.
Kaum hatten wir unsere Beute geborgen, da scholl es freudig vom Mastkorb: »Land über Steuerbord!« Alles bemühte sich eifrig, und da eine Brise sehr zur Zeit im Norden aufsprang, waren wir bald nahe an der Küste. Es war eine flache Felseninsel, etwa eine Meile im Umfang und, wenn man von einer Art Stachelbirne absieht, ganz ohne Pflanzenwuchs. Von Norden herankommend, bemerkten wir einen sonderbaren Felsvorsprung, der gar wunderlich an aufgestapelte Baumwollballen erinnerte. Westlich von diesem Felsen ist eine kleine Bucht, in der unsere Boote bequem landen konnten.
Bald hatten wir das Eiland völlig durchforscht; doch fanden wir, mit einer Ausnahme, nichts Bemerkenswertes. An der Südspitze hoben wir ein Stück Holz auf, das, jetzt in einem lockeren Steinhaufen halb vergraben, einstmals das Vorderteil eines Kanus gebildet zu haben schien. Es waren Schnitzversuche daran zu erkennen, und Kapitän Guy glaubte die Gestalt einer Schildkröte wahrzunehmen, aber die Ähnlichkeit schien mir nicht überzeugend genug. Außer diesem Vorderteil, falls es ein solches war, fanden wir kein Anzeichen, daß irgendein lebendes Wesen je hierhergekommen war. An der Küste fanden wir Eisschollen, doch in geringer Zahl. Die Lage dieses Eilands, das unser Kapitän nach seinem Partner »Bennets Eiland« taufte, liegt in 82° 50‘ südlicher Breite, 42° 20‘ westlicher Länge.
Jetzt waren wir um acht Grad weiter nach Süden gelangt als alle früheren Reisenden, und noch immer lag die See völlig offen vor unseren Blicken da.
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