Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
zu verraten.« Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, so fühlte ich einen eisigen Schauder bis in mein Herz kriechen. Ich hatte einige psychologische Erfahrung, wußte schon von den Anfällen jener Perversität, die ich Ihnen eben so unzureichend zu erklären gesucht habe, und erinnerte mich wohl, daß ich ihr noch in keinem Falle hatte widerstehen können. Und nun trat plötzlich meine eigene zufällige Annahme, ich könne Narr genug sein, mich selbst zu verraten, wie der Schatten des Gemordeten vor mich hin und winkte mir.
Anfangs machte ich alle Anstrengungen, den Alp abzuschütteln. Ich ging ungestüm, schneller und schneller, und endlich lief ich. Ich fühlte eine wahnwitzige Begierde, laut zu schreien. Jede neue Gedankenwelle wälzte neues Entsetzen über mich. Ich wußte nur zu gut, daß denken jetzt meinen Untergang bedeutete. Ich beschleunigte meine Schritte noch mehr, ich stürzte wie ein Rasender durch die menschengedrängten Straßen. Schließlich wurden die Leute unruhig und verfolgten mich. Da fühlte ich mein Schicksal besiegelt. Hätte ich mir die Zunge ausreißen können, ich hätte es getan, doch schon klang eine rauhe Stimme an meinem Ohr, packte mich eine rauhere Hand an der Schulter. Ich wandte in mich um – ich rang nach Atem. Einen Augenblick lang fühlte ich alle Qualen der Erstickung. Ich wurde taub, blind, schwindlig, und dann warf mich ein unsichtbarer Feind mit seiner mächtigen Hand zu Boden. Das lang eingekerkerte Geheimnis brach aus meiner Seele.
Man sagt, daß ich sehr deutlich, mit vielem Kraftaufwand und leidenschaftlicher Eile sprach, als hätte ich Furcht, daß man mich unterbräche, ehe ich jene kurzen, verhängnisvollen Sätze beendet hätte, die mich dem Henker und der Hölle überlieferten.
Als ich alles erzählt hatte, was meine Richter überzeugen konnte, sank ich ohnmächtig nieder.
Was soll ich noch hinzufügen? Heute trage ich Ketten und bin hier! Morgen bin ich fessellos, doch wo?
Die Feeninsel
Nullus enim locus sine genio est. (Servius)
›La musique‹ – sagt Marmontel in seinen ›Contes Moraux‹, die all unsere Übersetzer beharrlich ›Moralische Geschichten‹ genannt haben, als wollten sie sich über ihren Inhalt geradezu lustig machen -, ›la musique est le seul des talents, qui jouisse de lui-même; tous les autres veulent des témoins.-‹ Und es will mir scheinen, als verwechsle hier der Autor den Genuß, angenehme Töne zu hören, mit der Kraft, sie hervorzubringen. Denn die Musik ist ebensowenig wie jedes andere ›talent‹ imstande, einen reinen Genuß zu gewähren, wenn nicht eine zweite Person ihre Ausführung würdigt; und die Fähigkeit, Wirkungen hervorzubringen, die man auch in der Einsamkeit voll genießt, hat sie ebenfalls mit den anderen ›talents‹ gemeinsam. Der Grundgedanke, den Marmontel nicht klar genug ausgedrückt oder dessen letzte Fassung er einer echt französischen Vorliebe für Geistreichelei geopfert hat, ist ohne Zweifel durchaus haltbar: insofern nämlich die höhere Gattung der Musik am besten von uns gewürdigt werden kann, wenn wir ganz allein sind. In dieser Form wird die Behauptung allen denen genehm sein, die die Tonkunst um ihrer selbst, um des geistigen Genusses willen lieben, den die arme Menschheit haben kann, und vielleicht nur diesen einen, der noch mehr als der musikalische durch das Gefühl der Einsamkeit erhöht wird.
Ich meine das Glück, das uns die Betrachtung einer Landschaft gewährt. In Wahrheit, ja! Ein Mensch, der die Herrlichkeit Gottes auf Erden von Angesicht zu Angesicht schauen will, muß sie in der Einsamkeit betrachten. Für mich wenigstens ist jede Gegenwart-nicht nur die menschlichen Lebens, sondern des Lebens überhaupt, des Lebens in jeder anderen Gestalt als der, welche die stummen grünenden Wesen haben, die dem Boden entsprießen – ein Mißklang in der Landschaft, ein friedestörender Feind des besonderen Geistes, der in ihr wohnt.
Ich liebe es, die dunklen Täler zu betrachten und die grauen Felsen und die Wasser, die schweigend lächeln, und die Wälder, die in unruhigem Schlummer seufzen und stöhnen, und die wachsamen Berge, die so stolz herniedersehen. Ich liebe es, diese Dinge als das zu betrachten, was sie sind: große Glieder eines ungeheuren, lebendigen und fühlenden Ganzen, das mit den anderen Planeten seinen stillen Weg wandelt und dessen sanfte Dienerin der Mond, dessen Herrscher die Sonne ist; dessen Leben Ewigkeit, dessen Gedanke der eines Gottes, dessen Genuß
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