Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
einfache Vorstellung: welcher Art wären wohl unsere Gefühle, wenn wir aus solcher Höhe hinabstürzten? Und dieser Sturz, der uns zerschmettern müßte – wir wünschen ihn mit heißer Begier geradezu, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil er uns das gräßlichste, schaudervollste Bild von Tod und Qual zeigen werde, das unser Hirn sich je hat vorstellen können. Und weil uns unser Verstand mit Heftigkeit von dem gefährlichen Rande entfernen will, eben deshalb nähern wir uns ihm nur ungestümer. Keine Leidenschaft ist ungeduldiger als die eines Menschen, der am Rande eines Abgrundes schaudernd steht und sinnt, sich hineinzustürzen. Auch nur einen Augenblick lang nachzudenken bedeutete unausbleiblich Untergang; denn das Nachdenken drängt uns, von dem Plan abzustehen, und eben deshalb, sage ich, können wir nicht. Wenn kein Freundesarm in der Nähe ist, um uns zurückzuhalten, oder ein krampfhafter Entschluß, uns zu entfernen, erfolglos bleibt, stürzen wir hinunter in die Vernichtung.
Prüfen wir solche und ähnliche Handlungsweisen, so finden wir, daß sie einzig und allein dem Geiste der Perversität entstammen. Wir begehen dieselben nur, weil wir fühlen, daß wir sie nicht begehen sollten. Darüber hinaus oder dahinter fehlt jeder Beweggrund, und wir müßten in der Tat die Perversität für eine Einblasung des Erzfeindes halten, diente sie nicht auch zuweilen zur Förderung des Guten. -
Ich habe so lange über dies alles geredet, um Ihre Fragen in gewissen Beziehungen zu beantworten – um Ihnen zu erklären, weshalb ich hier bin – um Ihnen etwas zu zeigen, das wenigstens wie der blasse Schatten der Ursache aussehen, Ihnen erklären kann, warum ich Ketten trage und diese enge Zelle bewohne. Wäre ich nicht so weitläufig gewesen, so würden Sie mich gar nicht verstehen und mich wie die Menge für einen Irren halten. Jetzt werden Sie einsehen, daß ich eins der zahllosen Opfer jenes Dämons der Perversität bin.
Niemals ist eine Tat mit vollkommenerer Überlegung ausgeführt worden. Wochenlang, monatelang brütete ich über dem Mordanschlag. Ich verwarf tausend Pläne, weil sie eine Möglichkeit der Entdeckung enthielten. Da las ich einmal in alten Memoiren die Geschichte einer Frau, die durch eine zufällig vergiftete Kerze in eine tödliche Krankheit verfiel. Der Gedanke schlug wie ein Blitz in meine Seele. Ich wußte, daß mein Opfer die Gewohnheit hatte, im Bett zu lesen. Ich wußte, daß sein Zimmer klein war und kaum einem Luftzug Eintritt gewährte. Doch ich will Sie nicht mit müßigen Details ermüden. Ich will Ihnen nichts von der billigen List erzählen, mit der ich eine selbstverfertigte Kerze in seinen Leuchter stecken ließ. Am nächsten Morgen fand man ihn tot in seinem Bett und der Spruch des Leichenbeschauers lautete auf ›Tod durch Gottes Gegenwart‹. (Englischer Ausdruck für plötzlichen Tod. Anm. d. Übers.)
Ich erbte sein Vermögen, und alles ging ein paar Jahre lang gut. Der Gedanke, meine Tat könne entdeckt werden, kam mir nie. Die Überbleibsel der gefährlichen Kerze hatte ich sorgfältig vernichtet. Nichts war da, das mich hätte verraten, ja auch nur verdächtigen können. Ein unbeschreibliches, ein überströmendes großes Empfinden von Genugtuung schwoll jedesmal in meiner Brust auf, wenn ich mich dem Gefühl meiner vollständigen Sicherheit hingab. Eine lange Zeit schwelgte ich so in der Wollust dieses Gefühls. Und sein Genuß gewährte mir weit mehr wirkliches Glück als die materiellen Vorteile, die mir mein Verbrechen gebracht hatte. Doch einmal kam ein Tag, von dem ab sich dies Gefühl allmählich und unmerklich in einen Gedanken verwandelte, der mich ganz gefangennahm, mich nicht mehr verließ. Keinen Augenblick lang konnte ich mich von ihm befreien. Es ist eine ganz bekannte Sache, daß einem zuweilen die Ohren bis zur Ermattung vom Refrain irgendeines gewöhnlichen Liedes oder einiger unbedeutender Takte aus einer Oper klingen können. Und die Qual ist keine geringere, wenn das Lied an sich gut oder die Opernmelodie schön ist. So überraschte ich mich dabei, daß ich, während ich so in meiner Sicherheit schwelgend ging, mit leiser Stimme immer den Satz wiederholte: »Ich bin sicher.« Eines Tages, als ich durch die Straßen schlenderte, hörte ich mich plötzlich die gewohnten Worte mit fast lauter Stimme sprechen. Und in einem Anfall von Heftigkeit fügte ich noch hinzu: »Ich bin sicher – ich bin sicher-wenn ich nicht närrisch genug bin, mich selbst
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