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Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Titel: Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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tieferer Finsternis verschlungen wurde. Und endlich, als die Sonne ganz versunken war, verschwand auch die Fee – die jetzt wohl nur noch ein Schatten ihrer selbst war – mit dem Boote in den Weiten des abenddunklen Flusses.
    Ob sie jemals wieder aus ihm hervortauchte, ich kann‘s nicht sagen, denn tiefste, dichteste Finsternis fiel über alle Dinge, und ich sah ihre zauberhafte Gestalt nicht wieder.

Die längliche Kiste

    Als ich vor einigen Jahren von Charleston nach New York reisen mußte, mietete ich mir auf dem schönen Paketboot ›lndependence‹, dem Schiff des Kapitän Hardy, eine Kajüte. Die Abreise war auf den 15. Juni festgesetzt, und am 14. begab ich mich an Bord, um in meiner Kajüte noch Verschiedenes zu ordnen. Ich bemerkte, daß wir eine große Anzahl Passagiere, unter denen sich ungewöhnlich viele Damen befanden, bekommen sollten. Mehrere meiner Bekannten standen schon auf der Liste, und ich las mit großer Freude unter anderen den Namen des Herrn Cornelius Wyatt, eines jungen Künstlers, mit dem mich eine warme Freundschaft verband. Er hatte gleichzeitig mit mir studiert. Wir waren oft und viel zusammengewesen. Er hatte das richtige Temperament eines Genies: es war aus Melancholie, Sensibilität und Enthusiasmus seltsam gemischt. Mit diesen Eigenschaften vereinigte er das ehrlichste und wärmste Herz, das je in der Brust eines Menschen geschlagen hat.
    Ich bemerkte, daß seine Karte sich an drei Kajütentüren befand; als ich auf der Passagierliste nachsuchte, fand ich, daß er für sich, seine Frau und seine beiden Schwestern Plätze genommen hatte. Die Kajüten waren ziemlich geräumig, und jede enthielt zwei übereinander befindliche Bettstellen, die allerdings nur für eine Person Raum boten; doch konnte ich nicht verstehen, weshalb mein Freund für diese vier Personen drei Kajüten gemietet hatte.
    Ich befand mich damals gerade in einer jener verdrießlichen Stimmungen, in denen man oft von krankhafter Neugierde ergriffen wird, und ich muß beschämt gestehen, daß ich über diese überflüssige Kajüte eine Menge alberner und boshafter Vermutungen anstellte. Die ganze Sache ging mich ja gar nichts an; nichtsdestoweniger machte ich die hartnäckigsten Versuche, das Rätsel zu lösen. Endlich kam ich zu einem Schluß, bei dem ich mich verwundert fragte, warum ich nicht gleich auf ihn gekommen sei. »Sie werden natürlich einen Diener oder eine Dienerin mitnehmen«, sagte ich mir. »Welch ein Tor ich doch bin, daß mir dies nicht schon früher einfiel! « Noch einmal suchte ich auf der Liste nach – und fand die ausdrückliche Bemerkung, daß kein Diener und keine Dienerin mitgenommen werden sollte, obgleich man offenbar anfangs die Absicht gehabt hatte, Dienerschaft mitzunehmen, denn die Worte ›samt Dienerschaft‹, die anfänglich dagestanden hatten, waren wieder durchstrichen worden. Vielleicht hat er Extragepäck bei sich, dachte ich darauf, etwas, das er nicht in den Schiffsraum bringen lassen will, etwas, das er nicht aus den Augen verlieren will, nun hab ich es: ein Gemälde oder etwas Ähnliches, sah ich ihn doch neulich mit Niccolini, dem italienischen Juden, unterhandeln. Ich war nun ganz befriedigt und schickte meine Neugierde zum Kuckuck.
    Wyatts beide Schwestern kannte ich sehr gut, es waren liebenswürdige, gescheite Mädchen. Seine Gattin hatte er erst vor kurzem heimgeführt, ich hatte sie noch nie gesehen. Doch hatte er mir mit dem ihm eigenen Enthusiasmus viel von ihr erzählt. Nach seinen Beschreibungen mußte sie von hervorragendster Schönheit, Klugheit und Anmut sein. Ich konnte es kaum erwarten, sie kennenzulernen.
    An dem Tage, an dem ich das Schiff aufsuchte, am 14. also, erwartete man, wie mir der Kapitän mitteilte, auch Wyatt und seine Damen. Ich verblieb eine Stunde länger an Bord, als ich beabsichtigt hatte, um die Chance, der jungen Frau vorgestellt zu werden, nur ja nicht zu versäumen. Ich wartete vergeblich. Die Herrschaften ließen sich mit den Worten entschuldigen: Frau Wyatt befände sich nicht ganz wohl und werde erst morgen kurz vor Abfahrt das Schiff besteigen.
    Am folgenden Morgen, als ich mich auf die Reede begab, begegnete ich zufällig dem Kapitän Hardy, welcher mir sagte, daß die ›Independence‹ eingetretener Umstände halber (wie die stupide, aber bequeme Phrase lautet) wohl noch ein oder zwei Tage im Hafen liegen werde und daß er mir, sobald alles bereit sei, Nachricht zukommen lassen wolle. Ich fand diesen Aufschub recht sonderbar,

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