Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
misanthropischen Freundes in der Chamberstreet in New York bleiben und niemals weiter nördlich wandern werde.
Die ersten drei oder vier Tage hatten wir schönes Wetter, obgleich uns der Wind direkt entgegenblies, denn er hatte, sobald die Küste außer Sicht gekommen war, nach Norden gedreht. Die Passagiere waren alle in bester Laune und zu fröhlicher Geselligkeit aufgelegt, alle, d. h. mit Ausnahme Wyatts und seiner Schwestern, die sich gegen die übrigen Passagiere nicht allein steif, sondern, wie mir schien, ziemlich unhöflich benahmen. Bei Wyatt fiel mir dies nicht so sehr auf, denn wenn er auch außerordentlich melancholisch, ja sogar mürrisch erschien, so war ich doch dergleichen von ihm längst gewohnt. Für seine Schwestern jedoch suchte ich vergeblich nach einer Entschuldigung. Sie schlossen sich fast den ganzen Tag über in ihre Kajüten ein und waren trotz meiner wiederholten Vorstellungen nicht zu bewegen, mit jemandem an Bord zu verkehren. Frau Wyatt dagegen war viel angenehmer: sie plauderte gern und viel, und jeder, der eine längere Seereise gemacht hat, weiß, welch angenehme Eigenschaft dies auf See ist. Sie wurde mit den meisten Damen ungemein vertraut und legte zu meinem höchsten Erstaunen eine unverkennbare Neigung, mit den Männern zu kokettieren, an den Tag. Jedenfalls amüsierte sie uns außerordentlich. Ich sage ›amüsierte‹ – und weiß kaum, wie ich das, was ich darunter verstehe, näher bezeichnen soll. Ich möchte nur erwähnen, daß mir bald auffiel, daß man weit öfter über Frau Wyatt als mit ihr lachte; die Herren sagten wenig über sie; doch die Damen behaupteten nach kurzer Zeit, sie sei ein gutmütiges, ziemlich alltäglich aussehendes, gänzlich unerzogenes, ungebildetes Ding.
Alle Welt fand es unerklärlich, daß Wyatt sich ein solches Wesen als Lebensgefährtin gewählt hatte. Man suchte sich diese absonderliche Verbindung als eine Geldheirat zu erklären. Ich wußte jedoch bestimmt, daß diese Annahme absolut unbegründet sei, denn Wyatt hatte mir einmal gesagt, daß seine Frau nicht einen Dollar als Heiratsgut und in Ihrem Leben auch nie eine Erbschaft zu erwarten habe. Nur aus Liebe, einzig und allein aus Liebe, sagte er, heirate er sie, und seine Braut sei seiner Liebe mehr als würdig.
Ich muß gestehen, daß ich, als ich mich an diese Worte erinnerte, gar nicht wußte, was ich von ihm halten sollte. Hatte er denn keine Augen, um zu sehen, hatte er den Verstand verloren, er, ein so hochgebildeter, geistvoller, zart empfindender Mann mit seiner außerordentlichen Empfindlichkeit gegenüber allem Unfeinen und Unkünstlerischen, seinem heißen Drang nach Schönheit! – Jedenfalls schien die Dame ihn recht gern zu haben – besonders in seiner Abwesenheit -, denn sie machte sich dann in einem fort dadurch lächerlich, daß sie immer und ewig wiederholte, was ihr ›vielgeliebter Gatte‹ da und dort gesagt habe; das Wort ›Gatte‹ besonders schien ihr – um mich eines ihrer zarten Ausdrücke zu bedienen – ›immer auf der Zunge zu sein‹.
Mittlerweile war es schon allen Passagieren aufgefallen, daß Wyatt selbst seine Gattin, wo es nur anging, mied und sich den größten Teil des Tages in seine Kajüte einschloß und es seiner Frau überließ, sich nach Gutdünken mit der in der großen Kajüte versammelten Gesellschaft zu ›amüsieren‹.
Aus allem, was ich sah und hörte, mußte ich schließen, daß der Künstler einer der ganz unberechenbaren Launen des Schicksals zum Opfer gefallen sei oder daß er in einem Anflug grillenhafter Leidenschaft sich mit einer tief unter ihm stehenden Person verbunden habe, und daß das natürliche Resultat, baldige und vollkommene Abneigung, nun schon eingetroffen sei. Ich bedauerte ihn aus Herzensgrund, doch konnte ich ihm seine Geheimnistuerei mit dem ›Abendmahl‹ nicht vergeben: dafür wollte ich mich noch einmal an ihm rächen.
Eines Tages erschien er auf dem Verdeck, und ich nahm, wie wir es gewohnt waren, seinen Arm und schlenderte mit ihm eine Zeitlang auf und ab. Seine Melancholie, die mir jetzt erklärlich vorkam, schien ihn noch immer vollständig zu beherrschen. Er sprach wenig, dies Wenige nur mürrisch und gezwungen. Ich versuchte ein paar Scherze zu machen und sah, daß er sich zu einem krampfhaften Lächeln quälte. Armer Kerl! – Wenn ich an seine Frau dachte, wunderte ich mich fast noch, daß er sich so heiter stellen konnte.
Dann beschloß ich, an die Ausführung meines Racheplanes zu gehen. Ich
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