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Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Titel: Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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machte eine Menge versteckter Anspielungen auf die längliche Kiste, um ihm zu zeigen, daß ich wenigstens schon Argwohn schöpfte. Ich spielte auf ihre eigentümliche Form an, lächelte verständnisinnig, blinzelte ihm zu und klopfte ihm sanft mit dem Zeigefinger auf die Schulter.
    Die Art und Weise, mit der Wyatt diesen harmlosen Scherz aufnahm, brachte mich zu der Überzeugung, daß ich es mit einem Wahnsinnigen zu tun habe. Zuerst starrte er mich an, als sei es ihm unmöglich, meinen Witz zu verstehen. In dem Maß aber, wie ihm allmählich das Verständnis aufzugehen schien, rissen sich seine Augen auf und schienen aus ihren Höhlen springen zu wollen.
    Dann schoß ihm glühende Röte ins Gesicht – gleich darauf wurde er erschreckend bleich und brach endlich, als hätten ihn meine Worte aufs höchste belustigt, in ein langes, tolles Lachen aus, das wohl zehn Minuten andauerte und sich fortwährend steigerte -, dann stürzte er der Länge nach auf das Verdeck hin und schien, als ich ihn aufheben wollte, tot.
    Ich rief um Hilfe; nur mit vieler Mühe gelang es uns, ihn wieder zu sich zu bringen. Er murmelte unzusammenhängende Worte, man ließ ihn zur Ader und brachte ihn zu Bett. Am anderen Morgen war er jedoch, wenigstens körperlich, vollkommen wiederhergestellt; von seinem Verstand will ich nicht reden. Auf Anraten des Kapitäns, der auch von seinem Wahnsinn zu wissen schien, mied ich von nun an seine Gegenwart. Auch teilte ich niemandem an Bord etwas von meinen Vermutungen mit. Bald nach diesem Anfall ereigneten sich aber mehrere Dinge, die meine Neugierde nur noch steigern mußten. Ich hatte eines Tages, als ich nervös war, zu viel grünen Tee getrunken und schlief in der Nacht sehr schlecht – ja, eigentlich schlief ich ein paar Nächte überhaupt nicht. Meine Kajüte ging, wie die aller Junggesellen an Bord, in die große Kajüte oder den Speisesaal hinaus. Wyatts Kajüten liefen sämtlich in die zweite, kleinere Kajüte aus, die sich unmittelbar hinter der ersten, großen befand und von dieser nur durch eine Schiebetür getrennt war, die nie, selbst des Nachts nicht, verschlossen wurde. Da wir fast immer dicht beim Winde lagen, legte sich das Schiff ziemlich stark leewärts, und so oft es mit dem Steuerbord auf die Leeseite geworfen wurde, schob sich die Schiebetür zwischen den beiden Kajüten auf, und da sich niemand die Mühe gab, sie wieder zu schließen, blieb sie auch offen. Mein Bett war nun aber so angebracht, daß ich von ihm aus, wenn die Schiebetür und meine Kajütentür offen standen (und die letztere war bei der großen Hitze fast nie geschlossen), deutlich in die zweite, hintere Kajüte hineinsehen konnte, und zwar gerade in den Teil, in welchen die drei Kajüten Wyatts sich öffneten. Als ich nun einmal, wie erwähnt, ein paar Nächte lang nicht schlafen konnte und geradeaus vor mich hinstarrte, sah ich deutlich, daß Frau Wyatt jede Nacht gegen elf Uhr abends aus der Kajüte ihres Gatten herausschlich und sich in die Extrakajüte begab, wo sie bis zum Morgen verblieb. Erst wenn ihr Gatte sie gerufen hatte, betrat sie dessen Kajüte wieder. Daß die beiden nicht wie Eheleute zusammen lebten, unterlag also keinem Zweifel. Sie hatten getrennte Zimmer inne – vielleicht nur als Vorbereitung für ein baldiges endgültiges Auseinandergehen. Und ich glaubte zum zweitenmal, dem Geheimnis der Extrakajüte auf die Spur gekommen zu sein.
    Doch zog noch ein anderer Umstand mein Interesse an. Während der schlaflosen Nächte vernahm ich, unmittelbar nachdem Frau Wyatt die Kajüte ihres Gatten verlassen hatte, in dieser ein sonderbares, vorsichtiges, gedämpftes Geräusch. Ich lauschte eine Zeitlang aufmerksam hin, bis es mir gelang, die merkwürdigen Töne zu deuten. Ohne Zweifel versuchte der Künstler mittels eines Meißels und Hammers die längliche Kiste zu öffnen – der Kopf des Hammers mußte, seinem dumpfen Aufschlagen nach zu urteilen, mit einem wollenen oder baumwollenen Stoff umhüllt sein; nur auf diese Weise ließ sich sein eigentümlich gedämpftes Klopfen erklären.
    Ich lauschte immer gespannter, so daß ich ganz genau den Augenblick zu erkennen glaubte, in dem der Deckel völlig losgelöst sein mußte und der Künstler ihn ganz abhob und auf die untere Bettstelle seiner Kajüte legte. Dies letztere schloß ich aus gewissen leichten Stößen des Deckels an die hölzernen Bettkanten, und überdies war ja auf dem Boden gar kein Platz. Dann folgte eine Totenstille, und ich hörte

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