Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Titel: Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
Vom Netzwerk:
Neger, der Bedientendienste versah, hatten als letzte in dem schwachen Fahrzeug Zuflucht genommen.
    In diesem war natürlich für nichts weiter als für ein paar Lebensmittel und die notwendigsten Instrumente Platz; es war auch niemand auf die Idee gekommen, auch nur die geringste Kleinigkeit zu retten und die Jolle zu überlasten. Wie groß war daher unser aller Erstaunen, als Herr Wyatt, nachdem wir einige Klafter vom Schiff entfernt waren, plötzlich aufstand und ganz kaltblütig von dem Kapitän verlangte, er solle das Boot nochmals beim Schiffe anlegen lassen, weil er die längliche Kiste mitnehmen wolle.
    »Setzen Sie sich doch, Herr Wyatt!« antwortete ihm der Kapitän in etwas strengem Tone. »Wenn Sie nicht ganz still sitzen, wird das Boot umschlagen! Schon jetzt ist unser Dahlbord im Wasser!« »Die Kiste! Die Kiste!« schrie Wyatt, noch immer stehend – »ich muß die Kiste haben! Kapitän, Sie können, Sie werden mir die Kiste nicht verweigern! Sie wiegt ja nur eine Kleinigkeit – fast gar nichts! Wahrhaftig, gar nichts! Bei der Mutter, die Sie geboren – beim Himmel selbst – bei Ihrem Seelenheil bitte ich Sie, beschwöre ich Sie, fahren Sie zurück, lassen Sie mich die Kiste holen!« Einen Augenblick schien der Kapitän von dem inständigen Flehen des Künstlers erweicht zu werden, doch bald gewann er seine ernste Ruhe wieder und sagte einfach:
    »Herr Wyatt, Sie sind von Sinnen! Ich darf Ihrer Bitte kein Gehör schenken! Setzen Sie sich, sage ich noch einmal, oder Sie bringen das Boot zum Umschlagen. Bleiben Sie doch – - halten Sie ihn! Packen Sie ihn! Er will über Bord springen! – Da! – Wußt‘ ich‘s doch! Nun ist‘s um ihn geschehen!«
    Wyatt war in der Tat in diesem Augenblick über Bord gesprungen. Da wir noch in der Lee des Wrackes waren, gelang es ihm, ein Tau zu erfassen, das am Vorderdeck herabhing. Einen Augenblick später stand er an Bord und stürzte wie ein Wahnsinniger die Treppe zur großen Kajüte hinab.
    Wir waren inzwischen hinter das Schiff getrieben worden und, da wir uns ganz außerhalb seiner Lee befanden, der grausamen Wucht der Wogen ausgesetzt. Wir versuchten, nach dem Wrack zurückzufahren, doch unser kleines Boot war unlenkbar wie eine Feder im Winde. Ein einziger Blick sagte uns, daß das Schicksal des unglücklichen Künstlers besiegelt sei. Während wir uns nun ziemlich rasch von dem Wrack entfernten, sahen wir den Wahnsinnigen (nur als solchen konnten wir ihn noch ansehen) die Kajütentreppe wieder hinaufkommen, die längliche Kiste mit einem übermenschlichen Kraftaufwand hinter sich herschleppend.
    Während wir noch zu ihm hinüberstarrten, wand er ein dreizölliges Tau mehrmals um die Kiste und dann um seinen Leib. Im nächsten Augenblicke stürzte er sich mit seiner Last ins Meer, in dem er sofort und auf immer verschwand.
    Mit schweigendem Entsetzen hatten wir diesem Schauspiel zugesehen und schreckerfüllt die Ruder sinken lassen. Endlich aber gebot uns die Gefahr, so rasch wie möglich fortzusteuern. Wohl eine Stunde verging, ehe jemand ein Wort zu sprechen wagte.
    »Haben Sie auch bemerkt, Herr Kapitän«, fragte ich nach einer langen Weile, »wie rasch er mit der Kiste gesunken ist? War das nicht recht sonderbar? Ich gestehe, daß ich immer noch einige Hoffnung hegte, ihn gerettet zu sehen, als er sich an die Kiste anband und ins Meer warf.«
    »Mit dieser Kiste mußte er natürlich sinken«, erwiderte der Kapitän, »und zwar so schnell wie eine Bleikugel. Sie werden jedoch wieder an die Oberfläche kommen – allerdings nicht eher, als bis das Salz geschmolzen ist.« »Das Salz?!« rief ich aus.
    »Still!« meinte der Kapitän mit einem Seitenblick auf die Gattin und die Schwestern des Verstorbenen. »Wir werden zu gelegenerer Zeit von diesen Dingen sprechen.«
    Nach vielen Mühsalen retteten wir mit knapper Not unser Leben. Mehr tot als lebendig landeten wir nach vier Tagen bitterster Leiden in der Bucht, welche Roanoke-Island gegenüber liegt. Hier blieben wir eine Woche, wurden von den Strandräubern leidlich behandelt und fanden endlich Gelegenheit zur Überfahrt nach New York.
    Etwa einen Monat nach dem Untergang der ›Independence‹ begegnete ich dem Kapitän Hardy auf dem Broadway. Wie nur zu erklärlich, kamen wir bald auf unser Unglück und auf das traurige Schicksal des armen Wyatt zu sprechen. So erfuhr ich denn folgendes:
    Der Künstler hatte für sich, seine Gattin, seine beiden Schwestern und eine Dienerin Plätze auf dem Schiff

Weitere Kostenlose Bücher