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Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Titel: Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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Tageslicht aus der Nähe betrachten durfte.
    »Und nun, mon ami,« sagte sie, indem sie meine Hand nahm und so meinen Gedankengang unterbrach, »und nun, mon cher ami, da wir unlöslich vereint sind – da ich deinen leidenschaftlichen Bitten nachgegeben und meinen Teil der Vereinbarung erfüllt habe, nehme ich an, du hast nicht vergessen, daß auch du mir eine kleine Gunst zu erweisen hast – ein kleines Versprechen, das du gewiß erfüllen willst. Laß mich sehen! Laß mich nachdenken! Ja; ich erinnere mich unschwer des genauen Wortlauts des lieben Versprechens, das du deiner Eugénie heute nacht gegeben hast. Höre! So sagtest du: ›Es sei – ich stimme freudig zu. Ich opfere um Deinetwillen jede Empfindsamkeit! Heute trage ich dieses liebe Augenglas als Einglas und auf meinem Herzen; mit dem ersten Grauen des Morgens aber, der mir das Glück bringt, dich mein Weib zu nennen, will ich es auf meine – auf meine Nase setzen – und künftighin dort belassen, in der weniger romantischen und weniger kleidsamen, sicher aber dienlicheren Form, die du wünschest.‹ Das waren genau die Worte, mein geliebter Mann, nicht wahr?«
    »So ist es,« sagte ich, »du hast ein ausgezeichnetes Gedächtnis; und selbstredend, meine schöne Eugénie, habe ich auch nicht die Absicht, das kleine Versprechen, das diese Worte enthalten, zu umgehen. Sieh! Schau her! Ist sie nicht – eigentlich – ganz kleidsam?« Und hier setzte ich die Brille, in die ich das Glas zunächst umgewandelt hatte, behutsam auf, während Madame Simpson ihre Haube zurechtrückte, die Arme kreuzte und herausfordernd, sogar recht steif und geziert und in nicht sehr würdevoller Haltung in ihrem Stuhle saß.
    »Gott steh mir bei!« rief ich fast im gleichen Augenblick, als die Brille mir auf der Nase saß – »Herrgott, steh mir bei! – Was, was kann denn nur mit der Brille los sein?« Und rasch nahm ich sie ab, rieb sie sorgsam mit einem seidenen Taschentuch und setzte sie wieder auf.
    Wenn aber im ersten Augenblick sich nur etwas ereignet hatte, was mich überraschte, so wurde im nächsten Augenblick die Überraschung zum Erstaunen, und dies Erstaunen war tief – war grenzenlos – ja, ich kann sagen, es war grauenvoll. Bei allem, was scheußlich ist, was hatte das zu bedeuten? Konnte ich meinen Augen trauen? – konnte ich? – Da lag die Frage. War das – war das – war das »Rouge«? Und waren das – waren das – waren das Runzeln im Antlitz Eugénie Lalandes? Und, o Jupiter! Und bei allen Göttern, den großen wie den kleinen! Was – was – was – was war aus ihren Zähnen geworden? Ich schleuderte die Brille heftig zu Boden, sprang auf die Füße und stand aufrecht mitten im Zimmer Mrs. Simpson gegenüber, die Arme in die Hüften gestemmt; ich knirschte, ich raste, war aber gleichzeitig einfach sprachlos und hilflos vor Wut und Entsetzen.
    Nun habe ich ja schon gesagt, daß Madame Eugénie Lalande – das heißt Simpson – die englische Sprache kaum besser reden als schreiben konnte, und aus dem Grunde versuchte sie wohlweislich nie, sie für gewöhnlich anzuwenden. Die Wut aber kann eine Dame zum Äußersten treiben, und im vorliegenden Falle trieb sie Mrs. Simpson zu dem wirklich außerordentlichen Einfall, eine Rede in einer Sprache zu halten, die sie nicht ganz beherrschte.
    »Nun, Err! Un vas denn? Vas sein loß? Sein es den Danz von der Sank Veit, der Sie aben? Wenn nikt mögen mir, was dann kauf Katz in Sack?«
    »Du Hexe!« sagte ich, nach Atem ringend – »du – du – du widerliches altes Scheusal!«
    »Scheusal? – alde? – Ick gar nikt so serr alde! Ick kein Dag merr als zweiunakzig.«
    »Zweiundachtzig!« stammelte ich und tastete nach der Wand – »Zweiundachtzigtausend Paviane! Auf der Miniatur stand siebenundzwanzig Jahre und sieben Monate!«
    »Gewiß! Dat ise so – serr wahr! Aberr dann der portraite sein gemakt vor fünfundfünzig Jahr. Als ick gingte su eirat mein sweite Mann, Monsieur Lalande, da lassen ick nehmen der portraite für mein Tochter aus erster eirat mit Monsieur Moissart.«
    »Moissart?« sagte ich.
    »Ja, Moissart,« sagte sie, meine allerdings nicht einwandfreie Aussprache nachahmend; »un was ise? Was Sie wissen von die Moissart?«
    »Nichts, du alte Vogelscheuche! – Gar nichts weiß ich von ihm; ich habe nur seinerzeit mal einen Vorfahren dieses Namens gehabt.«
    »Diese Namen! Un was aben Sie zu sagen ieber diese Namen? Ise serr gutt Namen. Un auch Voissart – ise serr gutt Namen. Mein Tochter,

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