Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
paßt – so gar nicht mit der sonstigen Freimütigkeit Ihres Charakters übereinstimmt – und die, wenn mir noch ein Hinweis erlaubt ist, Sie bestimmt früher oder später einmal in Unannehmlichkeiten bringen wird. Sie sollen um meinetwillen diese Eitelkeit überwinden, die, wie Sie selbst gestehen, Sie veranlaßt, die Schwäche Ihrer Augen zu verheimlichen. Denn in Wahrheit leugnen Sie doch diese Schwäche ab, indem Sie sich weigern, das Hilfsmittel dagegen anzuwenden. Sie werden also verstehen, daß ich Sie veranlassen möchte, eine Brille zu tragen, – ah, still! – Sie haben ja schon zugestimmt, sie mir zuliebe tragen zu wollen. Sie sollen das kleine Ding hier in meiner Hand von mir annehmen, das, so unschätzbar es auch als Augenglas ist, als Schmuckstück keinen allzugroßen Wert bedeutet. Sie sehen, daß es durch eine kleine Veränderung, so – oder so – als Brille aufgesetzt oder in der Westentasche als Einglas getragen werden kann. Sie haben mir aber bereits zugesagt, es in ersterer Gestalt und gewohnheitsmäßig – um meinetwillen – tragen zu wollen.«
Ich muß gestehen, daß dieses Verlangen mich nicht wenig verwirrte. Die Bedingung aber, an die es geknüpft war, stellte natürlich jedes Zögern außer Frage.
»Es sei!« rief ich mit aller Begeisterung, die ich im Augenblick aufbringen konnte. »Es sei – ich stimme freudig zu. Ich opfere um deinetwillen jede Empfindsamkeit. Heute trage ich dieses liebe Augenglas als Einglas und auf meinem Herzen; mit dem ersten Grauen des Morgens aber, der mir das Glück bringt, dich mein Weib zu nennen, will ich es auf meine – auf meine Nase setzen – und künftighin dort belassen, in der weniger romantischen und weniger kleidsamen, sicher aber dienlicheren Form, die du wünschest.«
Unser Gespräch wandte sich jetzt den Einzelheiten unsrer Vereinbarung für den kommenden Tag zu. Talbot, so erfuhr ich von meiner Verlobten, war soeben in der Stadt angekommen. Ich sollte ihn sogleich aufsuchen und einen Wagen besorgen. Die Soiree würde kaum vor zwei Uhr beendet sein, und um diese Stunde sollte das Gefährt vor der Tür sein. Bei dem Durcheinander der sich entfernenden Gäste würde es Madame Lalande leicht sein, unbeobachtet Platz zu nehmen. Dann sollten wir bei einem Geistlichen vorfahren, der uns erwarten würde, von ihm getraut werden, Talbot absetzen und eine kurze Reise nach dem Osten antreten – die große Welt hinter uns lassend, die dann den Fall nach Gutdünken durchhecheln mochte.
Nachdem das alles verabredet war, entfernte ich mich sofort und begab mich auf die Suche nach Talbot, doch konnte ich mich unterwegs nicht zurückhalten, in ein Gasthaus einzutreten, um die Miniatur zu betrachten; ich tat es mit Hilfe der ausgezeichneten Gläser. Das Antlitz war überwältigend schön. Die großen strahlenden Augen! Die stolze griechische Nase! Die dunklen üppigen Locken! – »Ah!« sprach ich frohlockend zu mir selbst, »das ist wahrhaftig das sprechende Ebenbild meiner Geliebten!« – Ich betrachtete die Rückseite und entdeckte die Worte – »Eugénie Lalande – siebenundzwanzig Jahre und sieben Monate.«
Ich fand Talbot zu Hause und begann ohne weiteres, ihn mit meinem Glück bekannt zu machen. Er war natürlich ungemein erstaunt, gratulierte mir aber sehr herzlich und erbot sich zu jedem Beistand, der in seiner Macht liege. Mit einem Wort, wir führten unsere Verabredung pünktlich aus, und um zwei Uhr morgens, genau zehn Minuten nach der Zeremonie, befand ich mich mit Madame Lalande – mit Madame Simpson wollte ich sagen – in einem geschlossenen Wagen, der mit größter Geschwindigkeit aus der Stadt hinausfuhr, in nord-nord-östlicher Dichtung.
Talbot hatte uns veranlaßt, da wir die ganze Nacht auf sein mußten, in C ... unsern ersten Halt zu machen, einem etwa zwanzig Meilen hinter der Stadt gelegenen Dorf; dort sollten wir ein Frühstück und ein wenig Ruhe genießen, ehe wir unsere Reise fortsetzten. Punkt vier Uhr fuhr also der Wagen bei dem er sten Gasthof im Orte vor. Ich half meiner angebeteten Gattin heraus und bestellte sodann das Frühstück. Inzwischen wies man uns in ein kleines Zimmer, und wir nahmen Platz.
Es war indessen beinahe, wenn nicht völlig, Tag geworden, und als ich entzückt auf den Engel an meiner Seite blickte, kam mir ganz plötzlich der seltsame Gedanke, daß dies seit meiner Bekanntschaft mit der berühmten Schönheit Madame Lalande tatsächlich der erste Augenblick war, wo ich diese Schönheit bei
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