Edgar und die Schattenkatzen (German Edition)
dass es ihm schwerfiel, seine Gedanken zu ordnen. »Glaubst du eigentlich, dass Leyla immer die Wahrheit sagt?«
»Warum sollte sie uns anlügen?«, fragte Algernon.
»Ist dir nichts aufgefallen?« Edgar war verwundert. »Leyla hat behauptet, dass sie in Hinterindien geboren wurde. Aber Mister Carrington hat gesagt, dass er sie schon als Winzling gesehen hat. Sie hatte noch nicht einmal die Augen geöffnet, also war sie noch sehr klein.«
»Wo gibt es da einen Widerspruch? Dann war Mister Carrington eben auch in Hinterindien …« Algernon ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Das glaube ich nicht«, antwortete Edgar mit Nachdruck. »Das ist eine weite Reise und er hätte ja seine Buchhandlung solange im Stich lassen müssen.«
»Ist doch nicht ausgeschlossen. Warum sollte er keine Reise machen?«
»Weil so eine Reise sehr teuer ist, und Mister Carrington scheint nicht viel Geld zu haben«, behauptete Edgar. Mit Geld kannte er sich aus. Geld war meistens zu knapp, das hatte er von Emma gelernt. Man musste sparsam damit umgehen, sonst reichte es nicht zum Leben. In manchen Momenten hatte Emma dem kleinen Kater vorgerechnet, wie viele Schillinge und Pennies ihr im Monat zur Verfügung standen, wie viele Tage des Monats schon vorbei waren und wie viel Geld sie noch pro Tag übrig hatte. Obwohl sie eigentlich mehr mit sich selbst geredet hatte (denn natürlich war ihr klar, dass ein Kater ihr Geldproblem nie verstehen würde), hatte Edgar gut aufgepasst. Die Münzen und die Zahlen hatten ihn fasziniert, und eines Tages hatte er begriffen, wie man rechnete. Emma hatte keine Ahnung davon …
»Pffff! Geld – papperlapapp!«, brummte Algernon. »Warum sollte Leyla lügen? Du hast doch gehört, was sie auf dem Schiff erlebt hat. Glaubst du, das hat sie alles erfunden?«
»Vielleicht hat sie es ja in einem Buch gelesen«, meinte Edgar.
Algernon blieb abrupt stehen und funkelte den schwarzen Kater zornig an. »Hör mal, du Klugscheißer! Ich kenne Leyla seit langer Zeit – und sie hat ein wirklich aufregendes Leben hinter sich. Ich glaube ihr jedes Wort und werde allen, die sie als Lügnerin bezeichnen, eine Ohrfeige verpassen. Also nimm dich lieber in Acht, Ed!«
Edgar fiel es schwer, den Mund zu halten. Ihm lagen tausend Erwiderungen auf der Zunge. Er konnte sich gut vorstellen, dass Leyla die meiste Zeit ihres Lebens in dem Antiquariat verbracht hatte – einem Ort, an dem sie sich beschützt und behütet fühlte, genau, wie es ihm bei Emma ergangen war. Die vielen Bücher boten Leyla allerdings die Möglichkeit, in andere Welten abzutauchen und an fremden Schicksalen teilzunehmen.
Edgar erinnerte sich daran, wie Emma ihm manchmal vorgelesen hatte. Allerdings hatte sie nur wenige Bücher besessen, darunter die Bibel. Edgar hatte zu Emmas Füßen oder auf ihrem Schoß gelegen und dem warmen Fluss ihrer Worte gelauscht. Manchmal waren lebendige Bilder in seinem Kopf entstanden, beispielsweise als Noah die vielen Tiere mit in die Arche genommen hatte und der große Regen gekommen war.
Vielleicht las Leyla ja ein bisschen in den Büchern und nahm das Gelesene mit in ihre Träume, wo sie die Abenteuer dann weiterspann … Edgar hatte auch schon sehr aufregende Dinge geträumt, und manchmal war er sich nach dem Aufwachen nicht sicher gewesen, ob die Dinge nur in seiner Vorstellung passiert waren oder ob er sie tatsächlich erlebt hatte … Möglicherweise log Leyla nicht einmal absichtlich. Edgar grübelte weiter. Er hatte noch nie ein Buch gelesen, aber es interessierte ihn sehr, was die Zeichen auf der Seite zu bedeuten hatten. Es wäre fantastisch, wenn er den Zugang dazu bekommen würde. Ob Leyla ihm das Lesen beibringen konnte?
Dann würden sich auch ihm die Geheimnisse der Bücher erschließen – und er könnte quasi durch eine Tür in andere Welten treten. Eine sehr verlockende Aussicht!
Edgar hätte sich gern mit Algernon über dieses Thema unterhalten, aber er war sich nicht sicher, ob der Straßenkater seine Gedanken nachvollziehen konnte. Für Bücher schien er sich nicht sonderlich zu interessieren.
»Algernon, kannst du lesen?«, fragte Edgar trotzdem, während er neben seinem Gefährten trottete.
»Nein«, kam die barsche Antwort. »Wozu sollte das auch gut sein? Hier auf der Straße brauche ich so was nicht.«
»Ist klar«, murmelte Edgar kleinlaut.
»Geschichten sind etwas für Kätzchen, zum Einschlafen«, fuhr Algernon fort. »Und wenn ich etwas unbedingt wissen will, dann frage
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