Edith Wharton
erschöpfter Körper entspannten sich. Er wußte es
also ... er wußte es ... weil er es wußte, hatte er sie geheiratet, und deshalb
saß er nun im Dunkeln, um ihr zu zeigen, daß sie von ihm nichts zu befürchten
habe. Ein Gefühl, das tiefer war als alles, was sie je beim Gedanken an ihn
empfunden hatte, streifte ihr müdes Hirn, und vorsichtig, geräuschlos,
erleichtert ließ sie den Kopf wieder auf das Kissen sinken ...
Als sie erwachte, war das Zimmer
voller Morgenlicht, und sie sah auf den ersten Blick, daß sie allein war. Sie
stand auf und zog sich an, und als sie ihr Kleid zuhakte, ging die Tür auf und
Mr. Royall kam herein. Im hellen Tageslicht sah er alt und müde aus, aber sein
Gesicht trug den gleichen Ausdruck ernster Freundlichkeit, der sie oben auf
dem Berg so beruhigt hatte. Es war, als hätten ihn alle düsteren Geister verlassen.
Sie gingen zum Frühstück in den
Speisesaal hinunter, und nach dem Frühstück sagte er, er habe ein paar Versicherungsangelegenheiten
zu erledigen. »Ich denke, während ich das tue, gehst du vielleicht besser in
die Stadt und kaufst dir alles, was du brauchst.« Er lächelte und fügte mit
verlegenem Lachen hinzu: »Weißt du, ich habe immer gewollt, daß du alle anderen
Mädchen ausstichst.« Er zog etwas aus seiner Tasche und schob es ihr über den
Tisch zu; und sie sah, daß er ihr zwei Zwanzig-Dollar-Scheine gegeben hatte.
»Wenn es nicht reicht, es gibt noch mehr, wo das herkommt – ich will, daß du
sie alle miteinander ausstichst«, wiederholte er.
Sie errötete und versuchte, ein Wort
des Dankes zu stammeln, aber er hatte bereits seinen Stuhl zurückgeschoben und
ging ihr voraus dem Ausgang des Speisesaals zu. In der Halle blieb er kurz
stehen, um ihr zu sagen, daß, wenn es ihr passe, sie den Drei-Uhr-Zug nach
North Dormer nehmen würden; dann nahm er Hut und Mantel von der Garderobe und
ging hinaus.
Ein paar Minuten später verließ auch
Charity die Halle. Sie hatte darauf geachtet, in welche Richtung er ging,
schlug die entgegengesetzte Richtung ein und ging rasch die Hauptstraße bis zu
dem Backsteinhaus an der Ecke der Lake Avenue hinunter. Dort blieb sie stehen
und blickte vorsichtig links und rechts die Straße hinunter, dann stieg sie die
mit Messing eingefaßten Treppen zu Dr. Merkles Tür hinauf. Dasselbe kraushaarige
Mulattenmädchen ließ sie ein, und nachdem sie genauso lange wie damals in dem
rotplüschenen Salon gewartet hatte, wurde sie von neuem in Dr. Merkles Büro
geleitet. Die Ärztin empfing sie ohne Überraschung und führte sie in das
plüscherne Allerheiligste.
»Ich dachte mir, daß Sie
wiederkommen, aber Sie sind ein bißchen zu früh dran: ich habe Ihnen doch gesagt,
Sie sollten Geduld haben und nicht die Ruhe verlieren«, bemerkte sie, nachdem
sie Charity eine Weile durchdringend gemustert hatte.
Charity zog das Geld aus ihrem
Ausschnitt. »Ich bin gekommen, um mir meine blaue Brosche abzuholen«, sagte sie
errötend.
»Ihre Brosche?« Dr. Merkle schien
sich nicht zu erinnern. »Ach ja – ich bekomme so viele solcher Dinge. Tja,
meine Liebe, Sie werden etwas warten müssen, während ich sie aus dem Tresor
hole. Solche Wertgegenstände lasse ich nicht offen herumliegen wie eine
Zeitung.«
Sie verschwand für einen Augenblick
und kam mit einem Stück zerknittertem Seidenpapier zurück, aus dem sie die
Brosche wickelte.
Charity spürte, wie ihr warm ums
Herz wurde, als sie das Schmuckstück sah. Begierig streckte sie die Hand aus.
»Können Sie wechseln?« fragte sie
ein wenig atemlos, während sie einen der beiden Zwanzig-Dollar-Scheine auf den
Tisch legte.
»Wechseln? Wozu sollte ich wechseln
können? Ich seh' hier nur zwei Zwanziger«, antwortete Dr. Merkle munter.
Charity hielt verwirrt inne. »Ich
dachte ... Sie sagten, daß eine Untersuchung fünf Dollar kostet ...«
»Für Sie, als Gefallen – hab'
ich gemeint. Aber wie steht's mit der Verantwortung – und der
Versicherung? Daran haben Sie vermutlich nicht gedacht. Diese Nadel ist leicht
hundert Dollar wert. Wenn sie verlorengegangen oder gestohlen worden wäre, wie
hätte ich dagestanden, wenn Sie sie hätten abholen wollen?«
Charity schwieg verblüfft und von
dem Argument halb überzeugt, und Dr. Merkle nutzte sofort die Gelegenheit.
»Ich hab' Ihnen die Brosche nicht abverlangt, meine Liebe. Es wär mir viel
lieber, die Leute zahlten mir mein übliches Honorar, als daß sie mir den ganzen
Ärger aufbürden.«
Sie schwieg, und Charity, von dem
verzweifelten
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