Edith Wharton
schob Mr. Royall
seinen Stuhl zurück. »Also«, sagte er, »wenn du mitkommen willst ...« Sie rührte
sich nicht, und er fuhr fort: »Wir können den Mittagszug nach Nettleton nehmen,
wenn es dir recht ist.«
Bei diesen Worten schoß ihr das Blut
ins Gesicht, und sie hob die Augen und sah ihn verwirrt an. Er stand auf der
anderen Seite des Tischs und sah sie freundlich und ernst an; und plötzlich
begriff sie, was er damit sagen wollte. Noch immer saß sie da, ohne sich zu
rühren, und ihre Lippen waren wie mit Blei versiegelt.
»Du und ich, wir haben uns, solange
wir in einem Haus wohnen, ein paar schlimme Dinge gesagt, Charity; und ich
glaube nicht, daß etwas dabei herauskommt, wenn wir wieder damit anfangen.
Aber was ich für dich empfinde, wird sich niemals ändern; und wenn es dir recht
ist, fahren wir rechtzeitig runter, damit wir den Zug nicht verpassen, und gehen
direkt zum Pfarrer; und wenn du nach Hause zurückkommst, kommst du als Mrs.
Royall.«
Seine Stimme hatte den gleichen
ernsten, überzeugenden Ton, der seine Zuhörer auf dem Heimatfest so bewegt
hatte; sie hörte aus diesem ungezwungenen Ton eine unendliche, von Trauer
gefärbte Toleranz heraus.
Aus Angst vor ihrer eigenen Schwäche
begann sie am ganzen Leib zu zittern.
»Oh, ich kann nicht«, rief sie
verzweifelt aus.
»Was kannst du nicht?«
Sie wußte es selbst nicht: sie war
sich nicht sicher, ob sie ausschlug, was er anbot, oder ob sie bereits gegen
die Versuchung ankämpfte, etwas anzunehmen, worauf sie keinen Anspruch mehr
hatte. Sie stand auf, verwirrt und zitternd, und begann zu sprechen.
»Ich weiß, ich bin nicht immer
aufrichtig zu dir gewesen; aber ich will es jetzt ... Ich will, daß du weißt
... Ich will ...« Ihre Stimme versagte, und sie verstummte.
Mr. Royall lehnte an der Wand. Er
war blasser als sonst, aber sein Gesicht war gefaßt und freundlich, und ihre
Erregung schien ihn nicht allzusehr zu beunruhigen.
»Was soll das ganze ›Ich will,
ich will‹?« sagte er, als sie schwieg. »Weißt du, was du wirklich willst?
Ich werd's dir sagen. Du willst nach Hause gebracht und umsorgt werden. Und ich
glaube, das ist alles, was es dazu zu sagen gibt.«
»Nein ... es ist nicht alles ...«
»Nein?« Er sah auf seine Uhr. »Paß
auf, ich will dir noch etwas sagen. Ich will nur wissen, ob du mich heiraten
willst. Wenn es noch etwas anderes zu sagen gäbe, würde ich dir's sagen; aber
es gibt sonst nichts. In meinem Alter weiß ein Mann, was zählt und was nicht;
das ist so ungefähr das einzig Gute am Älter werden.«
Seine Stimme klang so stark und
entschieden, daß sie wie ein stützender Arm um sie war. Sie spürte, wie ihr Widerstand dahinschmolz und ihre
Kraft sie verließ, während er sprach.
»Weine nicht, Charity«, rief er mit
bewegter Stimme. Sie blickte auf, verwundert über seinen Gefühlsausbruch, und
ihre Augen begegneten sich.
»Sieh mal«, sagte er sanft, »der
alte Dan hat einen langen Weg hinter sich; wir müssen ihn den Rest des Weges
ein wenig schonen ...«
Er hob den Umhang auf, der auf ihren
Sitz gerutscht war, und legte ihn ihr um die Schultern. Sie folgte ihm aus dem
Haus und über den Hof zu dem Schuppen, wo das Pferd angebunden war. Mr. Royall
nahm ihm die Decke ab und führte es hinaus auf die Straße. Charity stieg in den
Wagen, und er wickelte sie in die Decke und ruckte schnalzend am Zügel. Am Ende
des Dorfs lenkte er das Pferd in Richtung Creston.
18
Im müden Trott des alten Dan zuckelten sie die
sich windende Straße ins Tal hinab. Charity fühlte, wie sie in immer tiefere
Tiefen von Müdigkeit sank, und während sie durch die kahlen Wälder abwärts
fuhren, gab es Momente, da sie das genaue Gefühl für die Dinge verlor und
glaubte, neben ihrem Liebsten zu sitzen, und das Laubdach des Sommers wölbe
sich über sie. Doch das war nur eine schwache und flüchtige Einbildung. Meist
hatte sie nur den verworrenen Eindruck, sie gleite einen ruhigen,
unaufhaltsamen Strom hinab; und sie überließ sich diesem Gefühl, als sei es ein
Schutz vor den quälenden Gedanken.
Mr. Royall sprach selten, doch gab
ihr seine stumme Gegenwart zum erstenmal ein Gefühl der Ruhe und der
Geborgenheit. Sie wußte, daß, wo er war, es Wärme, Ruhe, Schweigen gäbe; und im
Augenblick war das alles, was sie wollte. Sie schloß die Augen, und selbst
diese Dinge rückten in weite Ferne ...
Während der kurzen Zugfahrt von
Creston nach Nettleton weckte sie die Wärme, und das Bewußtsein, fremden
Blicken
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