Edith Wharton
ausgesetzt zu sein, verlieh ihr vorübergehend Kraft. Sie saß aufrecht,
Mr. Royall gegenüber, und sah aus dem Fenster auf die
kahle Landschaft. Achtundvierzig Stunden zuvor, als sie zuletzt hindurchgefahren
war, hatten viele Bäume noch ihre Blätter gehabt; doch der starke Wind der
vergangenen zwei Nächte hatte sie davongetrieben, und die Linien der Landschaft
waren so deutlich gezeichnet wie im Dezember. Ein paar Tage herbstlicher Kälte
hatten jede Spur der üppigen Felder und schattigen Wälder getilgt, durch die
sie am 4. Juli hindurchgefahren war; und mit der Landschaft waren auch jene
leidenschaftlichen Stunden verblaßt. Sie konnte nicht mehr glauben, daß sie es
war, die sie erlebt hatte; sie war jemand, dem etwas Unwiederbringliches und
Überwältigendes widerfahren war, aber die Spuren der Schritte, die dazu geführt
hatten, waren fast verweht.
Als der Zug in Nettleton ankam und
sie an Mr. Royalls Seite auf den Platz hinaustrat, wurde dieses Gefühl der
Unwirklichkeit noch mächtiger. Die körperliche Überanstrengung der Nacht und
des Tages hatten in ihrem Inneren keinen Raum für neue Empfindungen gelassen,
und sie folgte Mr. Royall so gefügig wie ein müdes Kind. Wie in einem
verworrenen Traum fand sie sich plötzlich in einem freundlichen Raum wieder;
sie saß mit ihm an einem Tisch mit einem rotweißen Tischtuch, auf den heißes
Essen und Tee gestellt wurden. Er füllte ihr Tasse und Teller, und jedesmal,
wenn sie die Augen hob, ruhte sein Blick mit dem gleichen beharrlich ruhigen
Ausdruck auf ihr, der sie beruhigt und gestärkt hatte, als sie sich in der
Küche der alten Mrs. Hobart gegenübergesessen hatten. Während alles andere in
ihrem Bewußtsein immer konfuser und unwirklicher wurde, immer mehr der
konturlosen Helligkeit ähnelte, zu der die Welt schwachen Augen verschwimmt,
begann sich Mr. Royalls Gegenwart mit felsenhaftiger Festigkeit von diesem
schwankenden Hintergrund abzuheben. In ihrer Vorstellung— wenn sie sich
überhaupt eine Vorstellung von ihm machte – war er immer jemand Hassenswertes
und Hemmendes gewesen, aber auch jemand, den sie überlisten und beherrschen
konnte, wenn ihr danach war. Nur einmal, am Tag der feierlichen Eröffnung der
Heimatwoche, als die verstreuten Bruchstücke seiner Rede durch ihr getrübtes
Bewußtsein geschwirrt waren, hatte sie für kurze Zeit einen anderen Menschen
wahrgenommen, einen Menschen, der so anders war als der stumpfsinnige Feind,
mit dem sie zu leben geglaubt hatte, daß er selbst aus dem brennenden Nebel
ihrer eigenen Träume mit überraschender Deutlichkeit hervorgetreten war.
Damals hatte das, was er sagte – und etwas an der Art, wie er es sagte –, ihr
für einen Augenblick verständlich gemacht, warum er ihr stets so einsam
vorgekommen war. Aber der Nebel ihrer Träume hatte ihn wieder verhüllt, und sie
hatte diesen flüchtigen Eindruck vergessen.
Nun erinnerte sie sich wieder daran,
als sie am Tisch saßen, und in all ihrer unermeßlichen Verzweiflung spürte sie
plötzlich, wie nah sie einander waren. Aber alle diese Empfindungen waren nur
kurze Lichtblitze in der dumpfen Verschwommenheit ihrer körperlichen Schwäche.
Wie durch einen Schleier nahm sie wahr, daß Mr. Royall kurz wegging und sie am
Tisch in dem warmen Raum zurückließ; nach einer
Weile kam er mit einem Wagen vom Bahnhof zurück – einer geschlossenen Droschke
mit verschossenen blauen Seidengardinen –, in der sie zusammen zu einem Haus
fuhren, das mit Kletterpflanzen bewachsen war und neben einer Kirche stand, vor
der sich ein Rosenteppich ausbreitete. Sie stiegen aus, und die Droschke
wartete, während sie zum Haus gingen und eine holzgetäfelte Diele und dann ein
Zimmer voller Bücher betraten. Hier wurden sie von einem Pfarrer, den Charity
nie zuvor gesehen hatte, freundlich begrüßt und aufgefordert, ein paar Minuten
Platz zu nehmen, während Zeugen herbeigeholt würden.
Charity nahm gehorsam Platz, und Mr.
Royall ging langsam im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt.
Als er sich umdrehte und Charity das Gesicht zuwandte, bemerkte sie, daß seine
Lippen ein wenig zuckten; aber der Ausdruck seiner Augen war ernst und ruhig.
Einmal blieb er vor ihr stehen und sagte schüchtern: »Der Wind hat dir das Haar
ein bißchen zerzaust«, und sie hob die Hände und versuchte, die Locken nach
hinten zu streichen, die aus ihrem Zopf gerutscht waren. Es hing ein Spiegel
mit geschnitztem Rahmen an der Wand, aber sie getraute sich nicht, sich
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