Edith Wharton
beugte er sich herunter und half ihr in den
Wagen. Sie versuchte zu sprechen, eine Erklärung zu stammeln, doch sie fand
keine Worte; und während er ihr die Decke über die Knie legte, sagte er nur:
»Der Pfarrer hat mir gesagt, er hätte dich hier oben gelassen, darum bin ich
gekommen, um dich zu holen.«
Er wendete das Pferd, und sie
zuckelten in Richtung Hamblin zurück. Charity saß schweigend da und blickte
starr vor sich hin, während Mr. Royall gelegentlich dem Pferd gut zuredete.
»Komm, auf geht's, Dan ... Ich hab' ihn in Hamblin eine Pause machen lassen;
aber ich hab' ihn ziemlich angetrieben, und gegen den Wind hier oben muß er
sich ganz schön anstrengen.«
Während er sprach, kam ihr zum
erstenmal der Gedanke, daß er, um so früh auf den Berg zu gelangen, North
Dormer um die kälteste Zeit morgens verlassen haben und bis auf den Halt in
Hamblin zügig durchgefahren sein mußte; und ihr wurde so warm ums Herz, wie er
es mit keiner seiner Gesten jemals mehr erreicht hatte seit jenem Tag, als er
ihr die Kletterrose mitbrachte, weil sie auf das Internat verzichtet hatte, um
bei ihm zu bleiben.
Nach einer Weile begann er wieder:
»Es war genau so ein Tag, bloß daß dichter Schnee fiel, als ich damals rauffuhr, um dich zu holen.« Dann fügte
er rasch hinzu, als fürchte er, sie könne diese Bemerkung als einen Hinweis
auf vergangene Wohltaten verstehen: »Aber ich weiß nicht, ob du meinst, daß das
so gut war.«
»Doch«,
flüsterte sie und blickte starr geradeaus.
»Nun ja«,
sagte er, »ich hab' versucht ...«
Er beendete den Satz nicht, und ihr
fiel nichts mehr ein, was sie hätte sagen können.
»Hü, Dan, vorwärts«, murmelte er und
ruckte am Zügel. »Wir sind noch nicht daheim. – Ist dir kalt?« fragte er
unvermittelt.
Sie schüttelte den Kopf, aber er zog
die Decke höher und bückte sich, um sie um ihre Knöchel festzustopfen. Sie sah
immer noch starr geradeaus. Tränen der Erschöpfung und der Schwäche schwammen
in ihren Augen und begannen überzufließen, aber sie wagte nicht, sie
wegzuwischen, aus Furcht, er könne die Geste bemerken.
Schweigend fuhren sie weiter und
folgten den langen Windungen hinunter nach Hamblin, und Mr. Royall richtete
erst wieder das Wort an sie, als sie am Rand des Dorfes angekommen waren. Dort
hängte er die Zügel über das Spritzbrett und zog seine Uhr hervor.
»Charity«, sagte er, »du siehst
ziemlich mitgenommen aus, und bis North Dormer ist es noch recht weit. Ich
hab' mir gedacht, wir halten hier am besten an, damit du was in den Magen
bekommst, und fahren dann weiter nach Creston und nehmen den Zug.«
Sie erwachte aus ihren apathischen
Grübeleien. »Den Zug – welchen Zug?«
Mr. Royall gab keine Antwort und
ließ das Pferd Weitertrotten, bis sie zum ersten Haus des Dorfes kamen. »Hier
wohnt die alte Mrs. Hobart«, sagte er. »Sie wird uns etwas Heißes zu trinken
machen.«
Halb bewußtlos bemerkte Charity, daß
sie aus dem Wagen stieg und Mr. Royall automatisch durch die offenstehende Tür
folgte. Sie betraten eine saubere Küche, wo im Ofen ein Feuer prasselte. Eine
alte Frau mit freundlichem Gesicht stellte Tassen und Untertassen auf den
Tisch. Sie sah auf und nickte, als die beiden hereinkamen, und Mr. Royall ging
auf den Ofen zu und schlug seine tauben Hände gegeneinander.
»Tja, Mrs. Hobart, hätten Sie
vielleicht ein Frühstück für die junge Dame? Wie Sie sehen, ist sie durchgefroren
und hungrig.«
Mrs. Hobart lächelte Charity zu und
nahm eine blecherne Kaffeekanne vom Herd. »Mein Gott, Sie sehen aber schlecht
aus«, sagte sie mitfühlend.
Charity errötete und setzte sich an
den Tisch. Erneut hatte sie ein Gefühl vollständiger Gleichgültigkeit überkommen,
und sie war sich nur der angenehm animalischen Empfindung von Wärme und
Geborgenheit bewußt.
Mrs. Hobart stellte Brot und Milch
auf den Tisch und verließ dann das Haus: Charity sah, wie sie das Pferd in die
Scheune auf der anderen Seite des Hofs führte. Sie kam nicht wieder, und Mr.
Royall und Charity saßen allein am Tisch, die dampfende Kaffeekanne zwischen
sich. Er goß ihr eine Tasse ein und legte ein Stück Brot auf die Untertasse,
und sie begann zu essen.
Als die Wärme des Kaffees durch ihre
Adern strömte, klärten sich ihre Gedanken, und sie fing an, sich wieder wie ein
lebendes Wesen zu fühlen; aber die Rückkehr ins Leben war so schmerzhaft, daß
ihr das Essen im Halse stecken blieb, und sie starrte in stummer Qual auf den
Tisch.
Nach einer Weile
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