Effi Briest
zuschritt, traf sie Roswitha vor ihrer Wohnung.
»Nun laß sehen«, sagte Annie, »wer am ehesten von uns die Treppe heraufkommt.« Roswitha wollte von diesem Wettlauf nichts wissen, aber Annie jagte voran, geriet, oben angekommen, ins Stolpern und fiel dabei so unglücklich, daß sie mit der Stirn auf den dicht an der Treppe befindlichen Abkratzer aufschlug und stark blutete. Roswitha, mühevoll nachkeuchend, riß jetzt die Klingel, und als Johanna das etwas verängstigte Kind hineingetragen hatte, beratschlagte man, was nun wohl zu machen sei. »Wir wollen nach dem Doktor schicken... wir wollen nach dem gnädigen Herrn schicken..., des Portiers Lene muß ja jetzt auch aus der Schule wieder dasein.« Es wurde aber alles wieder verworfen, weil es zu lange dauere, man müsse gleich was tun, und so packte man denn das Kind aufs Sofa und begann mit kaltem Wasser zu kühlen. Alles ging auch gut, so daß man sich zu beruhigen begann. »Und nun wollen wir sie verbinden«, sagte schließlich Roswitha. »Da muß ja noch die lange Binde sein, die die gnädige Frau letzten Winter zuschnitt, als sie sich auf dem Eise den Fuß verknickt hatte. ..« – »Freilich, freilich«, sagte Johanna, »bloß wo die Binde hernehmen...? Richtig, da fällt mir ein, die liegt im Nähtisch. Er wird wohl zu sein, aber das Schloß ist Spielerei; holen Sie nur das Stemmeisen, Roswitha, wir wollen den Deckel aufbrechen.« Und nun wuchteten sie auch wirklich den Deckel ab und begannen in den Fächern umherzukramen, oben und unten, die zusammengerollte Binde jedoch wollte sich nicht finden lassen. »Ich weiß aber doch, daß ich sie gesehn habe«, sagte Roswitha, und während sie halb ärgerlich immer weitersuchte, flog alles, was ihr dabei zu Händen kam, auf das breite Fensterbrett: Nähzeug, Nadelkissen, Rollen mit Zwirn und Seide, kleine vertrocknete Veilchensträußchen, Karten, Billets, zuletzt ein kleines Konvolut von Briefen, das unter dem dritten Einsatz gelegen hatte, ganz unten, mit einem roten Seidenfaden umwickelt. Aber die Binde hatte man noch immer nicht.
In diesem Augenblicke trat Innstetten ein.
»Gott«, sagte Roswitha und stellte sich erschreckt neben das Kind. »Es ist nichts, gnädiger Herr; Annie ist auf das Kratzeisen gefallen... Gott, was wird die gnädige Frau sagen. Und doch ist es ein Glück, daß sie nicht mit dabei war.«
Innstetten hatte mittlerweile die vorläufig aufgelegte Kompresse fortgenommen und sah, daß es ein tiefer Riß, sonst aber ungefährlich war. »Es ist nicht schlimm«, sagte er; »trotzdem, Roswitha, wir müssen sehen, daß Rummschüttel kommt. Lene kann ja gehen, die wird jetzt Zeit haben. Aber was in aller Welt ist denn das da mit dem Nähtisch?«
Und nun erzählte Roswitha, wie sie nach der gerollten Binde gesucht hätten; aber sie woll es nun aufgeben und lieber eine neue Leinwand schneiden.
Innstetten war einverstanden und setzte sich, als bald danach beide Mädchen das Zimmer verlassen hatten, zu dem Kinde. »Du bist so wild, Annie, das hast du von der Mama. Immer wie ein Wirbelwind. Aber dabei kommt nichts heraus oder höchstens so was.« Und er wies auf die Wunde und gab ihr einen Kuß. »Du hast aber nicht geweint, das ist brav, und darum will ich dir die Wildheit verzeihen... Ich denke, der Doktor wird in einer Stunde hiersein; tu nur alles, was er sagt, und wenn er dich verbunden hat, so zerre nicht und rücke und drücke nicht dran, dann heilt es schnell, und wenn die Mama dann kommt, dann ist alles wieder in Ordnung oder doch beinah. Ein Glück ist es aber doch, daß es noch bis nächste Woche dauert, Ende nächster Woche, so schreibt sie mir; eben habe ich einen Brief von ihr bekommen; sie läßt dich grüßen und freut sich, dich wiederzusehen.«
»Du könntest mir den Brief eigentlich vorlesen, Papa.«
»Das will ich gern.«
Aber eh er dazu kam, kam Johanna, um zu sagen, daß das Essen aufgetragen sei. Annie, trotz ihrer Wunde, stand mit auf, und Vater und Tochter setzten sich zu Tisch.
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Innstetten und Annie saßen sich eine Weile stumm gegenüber; endlich, als ihm die Stille peinlich wurde, tat er ein paar Fragen über die Schulvorsteherin, und welche Lehrerin sie eigentlich am liebsten habe. Annie antwortete auch, aber ohne rechte Lust, weil sie fühlte, daß Innstetten wenig bei der Sache war. Es wurde erst besser, als Johanna, nach dem zweiten Gericht, ihrem Anniechen zuflüsterte, es gäbe noch was. Und wirklich, die gute Roswitha, die
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