Egeland, Tom
getroffen hast, dieses dumme Mädchen mit Namen Diane! Vergiss, dass du mich vielleicht süß fandest! Vergiss, dass ich mich in dich verliebt habe, und streich mich aus deinem Gedächtnis und deinem Leben!
Ich küsse dich, dein Engel Diane
I ch zerreiße das Laken, verknote die Enden und binde es an den Bezug der Steppdecke. Dann stoße ich beide Fenster auf. Das Stoffbündel taumelt an der Wand entlang nach unten.
Die Hummel jubelt.
Nachdem ich den Stoff ein paarmal um den mittleren Fensterrahmen gewunden habe, klettere ich aufs Fensterbrett und seile mich ab. Die letzten anderthalb Meter lasse ich mich fallen.
9
DER SCHREI DAUERTE NUR eine Sekunde oder zwei, doch in meinem Kopf hallt er seit zwanzig Jahren.
∗ ∗ ∗
A n dem Abend vor dem Unglück war Papa still und abwesend, als ahnte er, dass etwas Schreckliches geschehen würde.
Als die Dämmerung hereinbrach, zündete Trygve ein Lagerfeuer an. Die Scheite waren schräg gegeneinander gestellt und von Steinen umringt. An einem Stab quer über den Flammen hing eine kohlrabenschwarze Kaffeekanne. Ein nette kleine Wildniskonstruktion. Wie auf einer Zeichnung der Pfadfinder.
Trygve saß mit seiner Gitarre da und sang Blowing in the wind.
Der Wald duftete nach Kaffee und Kiefernnadeln und Mamas Parfüm. Papa hatte eine Mückenspirale hervorgeholt, die schrecklich rußte und stank, die Mücken ansonsten allerdings nicht sonderlich zu stören schien. Papa lag, den Rücken leicht nach hinten gegen einen Baumstumpf gelehnt. Mama saß zwischen seinen Beinen und nutzte seinen Körper als Lehne. Er sprach über den Fund von großen Mengen an Perlen, Gold, Silber und Kunstschätzen im Gaalaashaugen bei Nes in der Hedmark, den sie im Frühjahr gemacht hatten. Mama hörte nicht richtig zu, aber ich saß da wie verzaubert und versuchte, mir den unbeschreiblichen Schatz vorzustellen.
Trygve hatte eine tiefe klare Stimme. Er schloss beim Singen die Augen. Die Flammen ließen seine langen, blonden Haare und die Bartstoppeln glühen. Seine kräftigen Unterarme hatten sich leicht um die Gitarre gelegt. Mama warf ihm einen Blick voller unsichtbarer kleiner Küsse zu.
Der Klang der Gitarre breitete sich zwischen den Bäumen aus. Der Himmel war weiß von Sternen. Durch das Laub des Unterholzes konnte ich den See glitzern sehen. Oben am Hang beendete ein Laubsänger den Tag. Der Wald schloss sich um uns, groß und zauberhaft.
Etwas später ging Papa, um die Kletterausrüstung zu überprüfen. Er war immer so besorgt. Ich sehe ihn noch vor mir. Er hatte die Rucksäcke hinter das Zelt getragen und stand über die Ausrüstung gebeugt, als ich ihn überraschte. Er dreh te sich mit einem dümmlichen Gesichtsausdruck um, als hätte ich ihn bei etwas ertappt. Kurz darauf hatte ich den Vorfall wieder vergessen, und das Bild von Papa, über die Ausrüstung gebeugt, wurde eine Kerbe in der Zeit, ein Augenblick, der zwanzig Jahre später wieder sichtbar wurde.
Trygve machte ein Bier für ihn auf, aber er hatte keinen Durst. Später leerte er die ganze Flasche in einem Zug.
Papa ging früh ins Bett. Mama und Trygve blieben noch sitzen –sie waren lustig und sprachen leise und geheimnisvoll miteinander, jeder ein Bier in der Hand –und brieten Marshmallows über dem Feuer.
Es war dunkel und sternenklar, als ich ins Zelt kroch. Mir war etwas übel, und ich war irgendwie beunruhigt. Vor dem Einschlafen lauschte ich der Nacht. Und Mamas leisem Lachen.
∗ ∗ ∗
I ch saß auf einem Baumstumpf und schnitzte an einer Flöte, als Papa abstürzte. Ich war nicht sehr weit entfernt.
Als ich durch die Büsche stürmte, hoffte ich von ganzem Herzen, es wäre Trygve gewesen, der geschrien hatte. Aber innerlich wusste ich, dass es Papa war.
In solchen Augenblicken zerspringt das Bewusstsein in Fragmente, festgefrorene Bildteilchen und Geräuschfetzen, die sich in das Gedächtnis eingraben.
Der blaue Himmel.
Ein Vogel.
Schrille Stimmen.
D ie graublaue Felswand, die aus dem Geröllfeld empor ragt.
T rygve, ein Farbklecks auf einem Felsvorsprung hoch oben.
Ein Ruf: » Bjørn! Geh! Geh! Geh weg! «
Die senkrechte Felswand.
Das Seil, das sich über das Geröllfeld windet.
Mamas Heulen.
Das Blut.
Der Klumpen Kleider am Fuß der Felswand. Nein, keine Kleider. Papa.
Der Baumstamm in meinem Rücken. Die Rinde, die mir den Nacken aufkratzt, als ich am Stamm zu Boden gleite.
∗ ∗ ∗
E rst am nächsten Morgen gelang es den Rettungstrupps, Trygve vom Felsvorsprung zu
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