Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen (German Edition)
Winters. Tod durch Verhungern oder Erfrieren war an der Tagesordnung. Zählte man zu den Glücklichen, denen eine einigermaßen unzerstörte Wohnung geblieben war, musste man sie mit zwangsweise zugewiesenen anderen Familien teilen. Die meisten von ihnen kamen als Flüchtlinge aus dem Osten, wo sie alles Hab und Gut verloren hatten. Und – bedingt durch die große Zahl der bei den deutschen Eroberungszügen gefallenen Männer war der Überschuss an ledigen oder verwitweten Frauen enorm. Es war das große Los, wenn sie einen Soldaten der Besatzungsarmeen kennenlernen und mit ihm eine Familie gründen durften.
Kaum jemand, der dies nicht am eigenen Leib und mit eigenen Augen miterlebt hat, kann sich vorstellen, was es bedeutete, wenigstens einen Hoffnungsschimmer auf eine irgendwann ein klein wenig bessere Zukunft haben zu dürfen: Hoffnung auf Frieden, auf Ausbildung, auf Arbeit – und auf einen bescheidenen Wohlstand. Für die Generation junger Menschen, die das Grauen des Krieges überlebt hatte, kam freilich etwas hinzu, das für ihre Eltern allenfalls ein Traum geblieben war: das Geschenk der Freiheit – der Freiheit, das eigene Dasein ohne Gängelung durch irgendeine mächtige Obrigkeit leben zu können, und der dazu gehörenden Freiheit, Menschen aus anderen Ländern treffen und mit ihnen von Gleich zu Gleich zusammenleben zu können.
Vor allen anderen gab es ein Land, das solche Hoffnungen wie kein anderes verkörperte: das Land der vermeintlich »unbegrenzten Möglichkeiten«, die USA. Die jungen Menschen in den europäischen Nachbarländern dachten nicht anders. Mag sein, dass dies fast an ein Wunder grenzte: Auch die Jugend jenseits des Rheins, deren Heimat (im Anschluss an den »Blitzkrieg« in Polen) als Erstes von den deutschen Truppen überfallen worden war, hoffte begeistert darauf, dass verblendete Politiker und Militärs nie wieder eine Chance bekommen würden, den Kontinent in einen barbarischen Krieg zu stürzen. Wo sich in späteren Jahren die Gefühle vieler junger Menschen in Demonstrationen gegen die Unterdrückung von Freiheit und Demokratie in ihren eigenen Ländern niederschlagen sollten, wo sie inzwischen gegen (vermeintliche oder wirkliche) Gefährdungen einer nachhaltig vertretbaren Entwicklung auf die Straße gehen: Damals wehte ein wahrhafter Sturm der Begeisterung für eine gemeinsame europäische Zukunft in Frieden und Freiheit – symbolisiert dadurch, dass die Schlagbäume an den Staatsgrenzen eingerissen wurden und man sich gegenseitig als Schwestern und Brüder in die Arme fiel.
Nie wieder Krieg! Keine trennenden Grenzen, keine nationalen Überheblichkeiten mehr! Gleiche Chancen für alle, Frauen und Männer, Deutsche und Franzosen, Engländer und Italiener, Holländer und Dänen! Die Welt kennenlernen, Reisen, wohin man will! Freiheit und Demokratie überall!
So oder ähnlich lauteten die Parolen. Trotz sowjetischer Unterdrückung galt das insgeheim nicht anders auch in den östlichen Ländern Europas. Heute sind sie – wie gesagt – zur selbstverständlichen Realität geworden, die nicht einmal in bösen Träumen infrage gestellt werden muss. Doch Gott sei Dank lebten damals einige Zeitgenossen, die aus eigener Erfahrung wussten, dass solche Traumvorstellungen blitzschnell ins Nichts zerstäuben können, wenn die Fundamente nicht fest genug sind, um sturmfeste Häuser zu tragen. Weit mehr noch als denjenigen, die über Jahrzehnte hinweg weiter daran gearbeitet haben, kommt ihnen das Verdienst zu, dass der Europäischen Union im vorigen Jahr zu Recht der Friedensnobelpreis zugedacht worden ist. Der erste – und entscheidende – Architekt, den sein Leben gelehrt hatte, entsprechend zu handeln, war freilich jemand, den die heutzutage weit verbreiteten journalistischen Leichtgewichte zweifellos mit einer Vokabel belegen würden, die ihnen gängig zur Hand ist: »eine schillernde Persönlichkeit«. Sein Name: Jean Monnet.
Wenn heutzutage an den Stammtischen die Rede auf die Politik und ihre führenden Vertreter oder Vertreterinnen kommt, ist man sich schnell einig, dass Politik ein »schmutziges Geschäft« ist. Das hat uns schon vor vier Jahrhunderten der italienische Philosoph Niccolò Machiavelli eingeschärft. Täglich können wir in den Medien, ob gedruckt oder digital verbreitet, erleben, dass Glaubwürdigkeit für diejenigen, die wir gewählt haben, um verantwortlich über unsere politische Zukunft zu entscheiden, kein Maßstab mehr ist, den sie ernst nehmen.
Weitere Kostenlose Bücher