Eheroman (German Edition)
Herbert. Mit seiner Mutter. Sie sind aus Kroatien.»
«Du weißt ja schon einiges.»
«Ja, das hat er mir erzählt, er ist nett.»
«Das dachte ich mir.» Er liest stumm die Gedichte von Theodor Storm, der Familie Heimatdichter für die offiziellen Feiertage, und das Thema ist beendet. Die Mutter wird davon vorerst nichts erfahren.
Am Städtischen Klinikum Lüneburg, wo sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester beginnt, lernt sie Andreas kennen. Er ist groß und dünn und geht, vielleicht wegen seiner Größe, immer ein bisschen gebeugt hinter den Ärzten her. Er ist Assistenzarzt und großer Fan vom Chefarzt Dr. Kohlmann. Beate sagt immer Dr. Kohlarsch. Wenn er es auch nur einmal hört, kann Beate sich warm anziehen, aber vielleicht hat er es sogar schon gehört.
Es ist nicht Avas Art, Leute so schnell einzuteilen, in Ärsche und Nichtärsche, sie sieht sich das erst mal eine Weile an, auch das hat sie vom Vater, der sieht sich aber eigentlich alles immer ewig an und fällt kaum je sein Urteil. «Warte ab, Avalein, wie sich der Mensch entpuppt, das dauert manchmal lange. Dann kriecht er aus sich heraus und flattert und ist vielleicht sehr schön, und du bist vorschnell gewesen.» Die Mutter ist vorschnell und schlägt eher in Beates Richtung. Sie mag Leute sofort oder sofort nicht. «Ich kann die nicht ab. Die geht mir so was von auf den Zeiger, sag ich dir.» Aber sie kann ebenso schnell ihre Meinung ändern, wenn diejenige ihr nett guten Tag sagt oder das Glas Gurken aus dem Regal bei Edeka reicht. «Die is doch irgendwie sehr nett, Avchen, oder?» Der Vater kommt mit seiner Meinung über Leute quasi nie zu Potte, wenn man so will. Er überlegt noch, wenn die Leute schon tot sind. Sie sind immer so und auch ein bisschen so und ein bisschen auch wieder so. Ava hat was davon geerbt, glaubt sie, sie wäre lieber konkreter, wie die Mutter, aber sie kann nicht. Es kommt ihr nicht aus dem Herzen durch das Gehirn auf die Zunge.
Sie zweifelt am Dr. Kohlarsch noch rum, aber vor allem auch, weil Andreas ihn so gut findet, so charismatisch, sagt er, und das ist genau das Arschige an ihm, das kann jemand wie Andreas auch charismatisch finden. Und als Arzt sooo gut. Er ist als Arzt sooo gut. Andreas will ein ebenso guter Arzt werden wie Dr. Kohlmann. Er hat schon ewig lange studiert und ist um einiges älter als Ava, wobei es ihr eigentlich nicht so vorkommt. Im Gesicht sieht er aus wie ein Junge, mit seinen Sommersprossen über der knubbeligen Nase. Und er kichert wie ein Mädchen, wenn jemand was sagt, das an einen Witz erinnert. Beate dreht sich dann um und verdreht die Augen.
Sie trifft ihn mehrmals an dem Tag, als Frau Brunnhofer stirbt. Sie trifft ihn an Frau Brunnhofers weißem und dennoch riechendem Bett – aber es ist nicht das Bett, das riecht – vor ihrem grauen Gesicht. An Frau Brunnhofers Tod ist nichts mehr zu ändern. Sie stirbt ohne Angehörige, weil sie keine hat. Dafür hat sie eine Patientenverfügung, und Dr. Kohlarsch hält sich dran. Keine Beatmung. Keine künstliche Ernährung.
«Sehr fortschrittlich», sagt Andreas und sieht zur Seite und holt Kaugummis aus seiner Kitteltasche und steckt sie wieder hinein. Andreas Sommersprosse, Herr Balzer damals noch für sie. Er kommt immer wieder an ihr Bett, um nach ihr zu schauen, nervös zappelig und innerlich zerrissen, wie Ava scheint.
«Ach seien Sie doch ehrlich», meint sie im Gang zu ihm, «am liebsten würden Sie doch die ganzen Schläuche auf der Stelle in die Frau reinstecken, damit sie noch eine Weile lebt.»
Er starrt sie an, seine hellen kleinen Augen müde und in den Winkeln vertrocknet und leicht gerötet, «ja», flüstert er und senkt den Kopf und reibt sich die juckenden Augen. In diesem Moment verliebt sie sich in Herrn Balzer, Andreas.
Wenn sie sich an diesem Tag am Bett der sterbenden Frau begegnen, sehen sie sich gegenseitig an, dann wieder die Frau, ihr nach innen gesunkenes Gesicht, ihre Augen in den Höhlen ihres Schädels, und dann wieder sich, ihre jungen Gesichter. Ava sieht die straffe Haut auf seinen Wangenknochen, auf denen versprengte, winzig kleine Sommersprossen sitzen, die etwas Albernes haben. Seine Schultern sind nach vorn gebeugt, sein helles Haar streicht er alle Minute nach hinten, und die Frau atmet kaum, in langen Abständen, und starrt schon ganz woandershin, wo die Vögel singen und die Bienen summen und sich das große Nichts öffnet. Ihre Hände liegen reglos und vertrocknet auf der Bettdecke, wie
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