Eheroman (German Edition)
würde auch niemand machen. Das ist endgültig vorbei, dass Leute anderen Leuten Gedichte vortragen und sich was davon versprechen. Das war früher mal, vielleicht, aber jetzt nicht mehr. Oder? Ihr Vater tut es immer noch, manchmal liest er in der Küche hinter der kochenden Mutter laut ein Gedicht vor, er mag die Worte, er sagt: «Hör, wie das klingt, höre das, der Mann ist ein Genie.» Die Mutter tippt sich dann an die Stirn, aber sie hört ihm zu, sie wird irgendwie schwach bei Gedichten, im Geheimen ist sie ein Fan vom Vater; wenn er sich da so dran freut, das kann sie kaum begreifen, aber trotzdem fühlen. Deshalb sind die Mutter und der Vater immer so süß in der Küche, findet Ava. So einer wie der Vater, wenn der heute geboren werden würde, dann würde er wieder so werden und Gedichte aufsagen. Aber so einen wie den Vater gibt es einfach nicht noch mal. Und Ava will um Gottes willen so einen Mann auch nicht haben.
Sie muss an Danilo denken, wie er im Schuppen stand und auf den Mäusen rumtrampelte. Er schien sich so sicher. Wenn man so klein ist, zwölf Jahre alt, da ist man ein Kind, da ist man doch nicht sicher, was die Liebe angeht. Oder liegt es daran, dass er Kroate ist? Sind die vielleicht anders in ihrer Entwicklung und ein bisschen eher sicher und wie Erwachsene? Aber eigentlich sind es doch überall verschiedene Menschen, Kroaten oder Deutsche, ganz verschiedene Menschen, manche so und manche so. Der Kleine ist eine spezielle Sorte. Möglich, dass er keine Freunde hat. So, wie er aussieht und rumläuft und spinnt mit seiner großen Brille. Sie muss aufpassen, dass sie ihm in nächster Zeit nicht über den Weg läuft. Wenn im Dorf rauskommt, dass sie den geküsst hat, dann aber hallo. Die würden sie richtig verarschen. Alle. Oh nein, das wäre schlimm, das muss sie unbedingt verhindern. Hoffentlich rennt er ihr nicht hinterher. Das wäre dem zuzutrauen, dass er sie bei der nächsten Gelegenheit wieder abknutscht. Herrgott, Ava, wie konntest du das nur tun? Bist du denn noch ganz dicht?
Die Tür klappt. Die Eltern kommen.
«Ava», ruft die Mutter im Elefantenmantel, den sie sich vom Körper pellt, wickelt ihr Tuch ab und keucht: «Wo warst du denn? Wir haben dich gar nicht mehr gesehen, wir haben uns schon Sorgen gemacht, dass du wer weiß wo bist.»
«Ich war nicht wer weiß wo. Ich bin sechzehn, und da musst du nicht immer gleich so einen Aufstand machen.»
«Aber Bescheid kannst du ja wohl sagen, wenn du weggehst. Wir sind doch auch zusammen hin.»
«Ich musste weg. Mir war ganz schlecht. Habt ihr das nicht gehört, wie das kleine Tier geschrien hat? Mir war richtig schlecht. Und ihr wart nicht da.»
«Natürlich waren wir da», sagt die Mutter, «natürlich waren wir da. Wo sollen wir denn gewesen sein?»
«Ich weiß es nicht. Ich habe dich doch gesucht, weil mir schlecht war, weil ich wegwollte, und du warst nicht da, der Vater auch nicht, also bin ich abgehauen.»
Der Vater setzt sich in den Sessel und schlägt ein Buch auf.
«Es war daheim auf unserm Meeresdeich;
Ich ließ den Blick am Horizonte gleiten,
Zu mir herüber scholl verheißungsreich
Mit vollem Klang das Osterglockenläuten.»
«Du sagst nichts», sagt die Mutter und starrt ihn wieder anhimmelnd und schon leicht beruhigt an, «ich rede mir den Mund wund, und du sagst nichts. Findest du es denn richtig? Sie kann doch wohl Bescheid sagen, wenn sie geht, oder, Frank?»
«Du kannst Bescheid sagen, wenn du gehst, Ava.»
«Ich hätte euch Bescheid gesagt.»
«Zum Bescheid sagen gehört Eltern suchen und Worte der Erklärung aussprechen, sei kein Kleinkind, Ava.»
«Mir war nicht gut.»
Die Mutter geht in die Küche, Kaffee kochen, immer kocht sie Kaffee, auch wenn es spätabends ist, immer trinken sie und der Vater Kaffee, wenn sie nach Haus kommen.
Der Vater wendet sich wieder seinem Buch zu und liest sauber artikuliert und sanft betonend:
«Im tiefen Kooge bis zum Deichesrand
War sammetgrün die Wiese aufgegangen;
Der Frühling zog prophetisch über Land,
Die Lerchen jauchzten und die Knospen sprangen.
Entfesselt ist die urgewalt’ge Kraft,
Die Erde quillt, die jungen Säfte tropfen,
Und alles treibt, und alles webt und schafft,
Des Lebens vollste Pulse hör ich klopfen», und sieht hoch zu Ava. «Wer ist der Junge?»
Ava starrt ihn an, wie kann der Vater immer und immer alles über sie wissen? Es ist doch verrückt. «Er heißt Danilo, er ist noch klein, erst zwölf. Er wohnt im Haus vom verrückten
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