Ehrbare Händler: Historischer Kriminalroman (German Edition)
weiter eingehend betrachtete, fragte Agnes: »Wer hat ihn gefunden?«
»Eigentlich der Wirt. Er wollte die Leiche mit seinem Knecht wegschaffen, damit er kein’ Ärger bekommt. Aber ’n Nachbar hat’s gesehen und gemeldet.«
Sie wandte sich an den Wirt: »Kanntet Ihr den Toten?«
Melmann kratzte sich am Hinterkopf und schaute kurz auf den hin und her wippenden Burschen. »Nein. Er kam gestern Nachmittag. Ich war grad nich da, da hat der Junge ihm die Kammer gezeigt. Und heute Morgen hat er ihn hinter den Fässern gefunden.« Aber plötzlich mimte der Wirt den Verärgerten. »Irgendso’n Ekel hat mir die Leiche fast genau in die gute Stube gelegt. Selbstverständlich wollten wir den wegschaffen. Wie jetzt jeder sehn kann, bringt ’ne Leiche nur Ärger.«
»Hattet Ihr ihn schon einmal gesehen?«
Der Wirt schüttelte seinen Kopf. »Nö.«
»Welchen Namen hatte er Euch genannt?«
»Namen?« Melmann tippte sich an die Stirn. »Wo lebt Ihr denn, werte Frau? Er hat bezahlt und gut war’s. Da braucht man keinen Namen. Und selbst wenn er einen genannt hätte, wen interessiert’s? Wer sollte das überhaupt nachprüfen wollen?«
Agnes schüttelte den Kopf. Für den Wirt war die Hauptsache, dass genug Geld hereinkam; auf welche Weise, das war egal. Ob man dem größten Halunken der Geschichte Unterschlupf gewährte oder nicht, war völlig gleichgültig.
»War der Mann gestern Abend noch unterwegs?«, fragte die Scholasterin wieder.
»Keine Ahnung. Meine Schlafgäste brauchen nicht durch die Schankstube. Sie gehen über die Treppe da rein und raus.« Damit zeigte der Wirt auf die Holztreppe.
Sie wandte sich an den Burschen: »Weißt du noch etwas? Hat der Gast etwas gesagt oder getan, was uns weiterhilft?«
Der Junge blickte kurz hoch und schielte vorsichtig zu seinem Herrn hinüber, aber Melmann ließ sich nichts anmerken. Man konnte keine Regung in seinem Gesicht erkennen. Der Bursche schüttelte schließlich den Kopf.
»Ich werde mir die Kammer des Toten ansehen«, beschloss Agnes.
»Und ich untersuche inzwischen seine Taschen«, ergänzte Ludolf.
Nun meldete sich auch Wolfram wieder zu Wort: »Ich komme mit dir mit.« Und watschelte unbeholfen auf Agnes zu.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Blick war frostig, der Ton ihrer Stimme auch nicht angenehmer: »Nein. Ich gehe allein. Ich darf dich doch nicht daran hindern, dass du dich um deine Frau kümmerst.«
Er blieb abrupt stehen. »Wie meinste das denn?«
»Ich weiß inzwischen ein wenig besser über dich Bescheid. Du meintest wohl, eine Nonne würde dir deine Märchen glauben. Zum Glück bin ich dir früh genug auf die Schliche gekommen. Du bist doch stadtbekannt für deine vielen Liebschaften.« Mit einem Mal begann sie zu grinsen. »Aber vielleicht habe ich einigen Frauen ja einen Dienst getan. Tut es noch sehr weh?«
Wolfram klappte seinen Mund überrascht auf und zu, aber kein Wort war zu hören. Er stand da wie ein Ölgötze und rührte sich nicht.
Agnes drehte sich lächelnd um, winkte kurz dem jungen Burschen, ihr zu folgen, und marschierte erhobenen Hauptes zur Treppe. Nach wenigen Augenblicken war sie oben angekommen und durch die kleine Tür verschwunden. Der Hauptmann starrte ihr immer noch wie benommen hinterher.
Ludolf musste sich beherrschen, um nicht laut loszulachen. Er amüsierte sich köstlich über das dämliche Gesicht des Soldaten. Diese Abfuhr hatte er dem rücksichtslosen Kerl von ganzem Herzen gegönnt.
Im Zimmer des Toten
Wartet bitte!« Die Stimme des jungen Burschen zitterte vor Aufregung.
Agnes blieb stehen. »Was ist?«
Im Dämmerlicht des niedrigen Flures konnte sie das Gesicht des Halbwüchsigen kaum erkennen. Mit einer energischen Bewegung warf er seine blonden Haare zur Seite. Agnes wollte so schnell wie möglich diesen Gang zu den Kammern der Schlafgäste verlassen. Der Geruch nach abgestandenen Bier war noch das kleinste Übel, aber irgendeiner musste sein Quantum in eine der Ecken gespien haben. Es stank grässlich. Noch einen Moment und sie würde ihr Frühstück daneben spucken.
»Was willst du mir denn sagen?« Agnes wurde ungeduldig.
»Bitte verratet mich nicht.« Seine Stimme klang sehr flehentlich.
»Weswegen sollte ich das?«
»Ich habe jemanden in das Zimmer von dem da im Hof gelassen. Wenn der Melle das erfährt, schmeißt er mich raus.«
»Oh!« Die junge Frau war überrascht. Damit hatte sie keineswegs gerechnet. »Ich verrate nichts. Vorläufig nicht. Es kommt darauf an, ob das
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