Ehrenhüter
Schwester und deren Freundinnen. Ein Bild zeigte Nilgün und Saliha Arm in Arm auf einer Bank an der Weser. Ihre große Schwester lachte sie an und hielt scherzhaft den Daumen ihrer linken Hand hoch. Nilgün, die Wagemutige! Die Unbeugsame!
Wie sie ihr fehlte!
Saliha nahm die kleine Stoffgiraffe und streichelte sie zart. Tränen liefen ihr über die Wangen.
Baba
konnte vielleicht Nilgün aus seinem Gedächtnis streichen und alle in der Familie zwingen, ihren Namen nie wieder zu nennen. Aber es würde kein Tag, keine Stunde vergehen, an dem sie nicht an ihre Schwester dachte.
Mit einem Mal erfasste sie eine große Unruhe. Einem Impuls folgend, ging Saliha zurück in die Küche und öffnete zum vierten Mal an diesem Tag den Briefumschlag. Sie musste nicht lange suchen. Die Rechnung über die Flugreise steckte hinter den Tickets. Saliha schluckte. Die Kosten warengenau aufgelistet: drei Hinflüge, zwei Rückflüge. Warum hatte ihr Vater das übersehen?
Plötzlich stieg ein furchtbarer Verdacht in ihr auf. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn. Ihr Atem ging schneller. Saliha ließ den Umschlag fallen, zog sich eine Jacke über und stürzte aus der Wohnung.
Zehn Minuten später stellte sie ihr Rad vor dem Gemüseladen in Gröpelingen ab. Mit einem gequälten Lächeln öffnete sie die Tür. Murat war allein im Geschäft. Wie immer mittwochnachmittags, wenn ihr Vater ins Teehaus ging.
Baba
blieb bei seinen Gewohnheiten, auch wenn es ihm angesichts der Zeitungsberichte sicher schwerfiel. Aber alles andere, so war er überzeugt, wäre ihm als Schwäche ausgelegt worden. So konnte er demonstrieren, dass er nicht um seine ehrlose Tochter trauerte. Würde sonst ein Vater Karten spielen und über Geschäfte plaudern?
Salihas Blick fiel auf die große Uhr an der Wand über dem Tresen. Spätestens in 20 Minuten würde
Baba
wiederkommen. Sie durfte keine Zeit verlieren.
«Ich werde mit
Baba
und
Anne
in den Ferien in die Türkei reisen», sagte sie zu ihrem Bruder bemüht freundlich. «Schade, dass du nicht bei meinem großen Fest dabei sein kannst.»
Murat, der gerade eine Kiste Bananen hochheben wollte, fror mitten in der Bewegung ein.
Saliha wagte nicht zu atmen. Konnte es wirklich wahr sein? Würde der Vater ihr das antun?
«Was guckst du so erschrocken? Ich freue mich doch», log sie.
«Wer hat dir das gesagt?», fragte Murat entgeistert.
«Baba.»
«Baba?»
Er sah sie zweifelnd an. «Ich dachte, du würdest heulen und ihn anflehen, es nicht zu tun.»
Sie schüttelte den Kopf und strahlte. Dabei war ihr Hals wie zugeschnürt. Es hämmerte in ihrem Kopf. Gleich würde ihr Vater wiederkommen. Sie musste handeln.
‹Ich muss hier raus!›, durchfuhr es sie.
Murat stellte die Kiste auf den Tresen. Eine Kundin unterbrach ihr Gespräch und verlangte nach ungespritzten Feigen. Während der sie bediente, drehte sich Saliha um und winkte Murat zum Abschied fröhlich zu. Dann zog sie die Tür hinter sich zu und schloss so ruhig wie möglich ihr Rad auf. Sie spürte den misstrauischen Blick ihres Bruders im Rücken. Er beobachtete sie durch das große Schaufenster. Ein letzter Gruß, dann entschwand sie aus seinem Gesichtsfeld.
Kaum war sie um die Ecke gebogen, schnellte Saliha von ihrem Fahrradsitz hoch und trat mit voller Kraft in die Pedalen. Klingelnd scheuchte sie Kinder und andere Radfahrer aus dem Weg, fuhr über rote Ampeln und quer durch eine Fußgängerzone.
Ihr blieben noch 15 Minuten, um ihr Leben zu retten.
21
Saliha warf ihr Rad in die Hecke vor dem Haus und rannte die Treppen hinauf. Sie betete, dass Osman an diesem Mittwoch nicht früher als sonst von der Arbeit wiederkam. Ein Blick auf die Schuhsammlung vor der Wohnungstür verriet ihr, dass ihr Bruder tatsächlich noch nicht zu Hause war.
Mit zitternden Fingern schloss sie die Wohnung auf, riss ihre Sporttasche aus dem Schrank und kippte den Inhaltaufs Bett. Dann stopfte sie ein paar Kleidungsstücke und den Talisman ihrer toten Schwester, die kleine Giraffe, in die Tasche. Das gerahmte Bild von ihr und Nilgün sowie den Pass warf sie obenauf.
Saliha war schon halb aus der Tür, als ihr einfiel, dass sie beinahe das Wichtigste vergessen hatte. Mit drei Sätzen war sie an ihrem Schrank und holte aus einem Versteck Nilgüns Schachgeld. Sie stopfte die Scheine in ihre Hosentasche, schnappte sich die Tasche und öffnete mit klopfendem Herzen die Tür zum Treppenhaus.
Stimmen und Geräusche drangen aus den anderen Wohnungen. Angestrengt
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