Ehrenhüter
trockenen Wind, der an den Kopftüchern der Frauen zerrte. Sie und ihre Geschwister langweilten sich entsetzlich, aber die Erwachsenen nahmen darauf keine Rücksicht. «Geht, spielt mit den anderen Kindern», forderte
Baba
sie auf und schickte sie nach draußen. Dort wartete schon eine Horde Kinder auf sie. Neugierig und feindselig zugleich. Doch es gab nichts zu spielen. Keinen Ball, kein Seil, keine Brettspiele. Und sie hatten auch nichts gemeinsam, außer ihrer Sprache und der Tatsache, dass ihre Väter und Mütter in diesem Dorf geboren waren. Die einen waren geblieben, die anderen in ein fremdes Universum aufgebrochen.
Die Zeit in Dicle zog sich zäh dahin. Zwischenzeitlich war Saliha dankbar, wenn ihre Cousinen sie zum Wasserholen an den Dorfbrunnen mitnahmen und abends mit ihr Fladenbrot backten. Mit zwei der Mädchen hatte sie sich am Ende doch noch angefreundet. Sie waren etwas älter als sie und mussten viel mithelfen. Manchmal durften die Kinder mit ihren Vätern in die nächstgelegene Kleinstadt fahren, wo es zwei Cafés, Geschäfte und einen Basar gab. Auf Saliha, die in Bremen geboren und aufgewachsen war, übte die verschlafene Kleinstadt kaum einen Reiz aus. Einzig die Eselskarren, die die ärmeren Bauern anstelle eines Autos als Fortbewegungsmittel benutzten, taten es ihr an. Immer wiederbedrängte sie ihren Vater, ob sie sich in Bremen nicht auch einen Esel anschaffen könnten. Damit, so malte sie sich aus, würde sie dann zu ihrer Grundschule reiten. Sie wäre der Star ihrer Klasse. Und Janina, das Mädchen, das schräg vor ihr saß, würde sie nie wieder hänseln, weil sie noch kein eigenes Fahrrad besaß.
Aber ihr Vater hatte sie nur laut ausgelacht. Ein Esel in Bremen! Man stelle sich das vor. Doch in Dicle konnte sich niemand ihr Leben fern der Heimat vorstellen. Kemals Onkel hatte höflich mitgelacht und dann das Thema gewechselt.
Irgendwie waren die vier Wochen schließlich vorbeigegangen. Als Saliha ihren Verwandten zum Abschied zuwinkte, war sie heilfroh. Nichts in der Welt würde sie in dieses Dorf zurückbringen. Und auch Besma und Kemal Cetin schien nichts zu drängen, in die alte Heimat zurückzukehren.
Doch nun lagen diese Tickets auf dem Tisch. Hamburg – Istanbul mit Anschlussflug nach Diyarbakir. Ausgerechnet jetzt. Wie konnte
Baba
an Urlaub denken, wo
Anne
im Krankenhaus lag und Nilgün noch nicht einmal beerdigt war?
Saliha stand auf und schaute aus dem Fenster. Schräg gegenüber von ihrem Wohnhaus stand an der Ecke ein Kiosk. Er gehörte einem Freund ihres Vaters. Salihas Bruder und der Besitzer hatten sich am Dienstagmorgen heftig gestritten.
Osman wollte wie immer auf dem Weg zur Arbeit seine Zigaretten bei dem Kiosk holen, als sein Blick auf die Schlagzeilen in den türkischen und deutschen Boulevardblättern fiel. Dann sah er seine Schwester. Eines der wenigen Bilder, auf denen Nilgün lächelte. Einen kurzen Augenblicklang schien es Osman, als verspotte seine schlaue Schwester ihn auch noch im Tod. Die Polizeibeamten hatten das Bild in ihrem Schrank in der Schule gefunden und mitgenommen. Nun wollten die Ermittler wissen, wer die Schülerin Nilgün Cetin gesehen hat, nachdem sie am Montagnachmittag das Haus ihres Freundes in Schwachhausen verlassen hatte. Osman riss die oberste Zeitung aus dem Ständer und überflog den Artikel. Sein Gesicht wurde rot vor Wut. Wie ein Besessener griff er nach allen Zeitungen, die er zu fassen bekam, und schleuderte sie auf die Straße. Anschließend trat er so kräftig gegen einen Stapel Papier, dass ein Windstoß einzelne Seiten erfasste und in den Rinnstein wehte.
Schwanger! Die Journalisten hatten geschrieben, dass Nilgün schwanger war. Schwarz auf weiß stand es da! Und Nilgün lächelte dazu.
Wie ein Lauffeuer würde es sich herumsprechen. Beim Bäcker, in der Teestube, in der Moschee, in ihrem Wohnhaus, an seinem Arbeitsplatz. Alle würden es heute Abend wissen: Nilgün, die älteste Tochter des Gemüsehändlers Kemal Cetin, war tot, und sie war eine Hure!
Keine ruhige Minute würden er und sein Bruder mehr haben. Die Frauen würden tuscheln, und die Männer würden sie fragen, warum sie nicht besser auf ihre Schwester aufgepasst hätten. Mit voller Wucht trat Osman noch einmal gegen die am Boden liegenden Zeitungen.
Der Kioskbesitzer war aus seinem Kabuff herausgerannt und hatte mit ihm geschimpft. Osman hätte sich am liebsten auf ihn gestürzt und ihn gewürgt. Wie konnte er diesen Schund verkaufen? Den Ruf der
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