Ehrenhüter
Cetins haben ihre Handys nicht gewechselt. Aber bislang wird noch fleißig innerhalb der Familie telefoniert. Leider –» Mitten im Satz stockte Steenhoff und blieb stehen. «Ach, das kann doch nicht wahr sein!» Er stöhnte laut auf.
Vergeblich versuchte Petersen herauszufinden, was ihn so aufregte, dann sah sie es selbst: Hinter dem rechten Scheibenwischer ihres Dienstwagens steckte ein Knöllchen.
Steenhoff riss den Strafzettel unter dem Scheibenwischer hervor und stopfte ihn in seine Jackentasche. Erst als sie schon wieder auf dem Weg ins Präsidium waren, setzte er seinen Satz fort. «Leider kommen die Dolmetscher nicht so schnell mit den Übersetzungen nach.»
Während der Fahrt zog sich der Himmel über Bremen düster zusammen. Fünf Minuten später zerriss ein Blitz das Wolkenspektakel, gefolgt von einem heftigen Donner. Dicke Regentropfen klatschten auf die Windschutzscheibe.
«Gut, dass es nicht geregnet hat, als wir in der Grube saßen», begann Steenhoff behutsam, an ihr Gespräch von vorher anzuknüpfen.
Petersen stimmte ihm zu, stieg aber nicht weiter auf das Gesprächsangebot ein.
«Ich möchte gern wissen, was diese Grube früher mal für eine Funktion hatte», begann Steenhoff erneut. Aber wieder ließ Petersen die Chance verstreichen. Früher hätte Steenhoff damit die Sache abgehakt und nie wieder ein Wort darüber verloren. Er musste nicht über alles sprechen, was ihn beschäftigte. Aber Navideh hatte den ersten Anstoß gegeben. Sie hatte es gewollt, so sehr sogar, dass sie ihn bereits auf dem Präsidiumsflur darauf ansprach. Warum ging sie jetzt nicht darauf ein? Er würde nie aus ihr schlau werden.
«Navideh …», begann er entschlossen.
«Frank, lass uns bitte reden, wenn wir wieder allein im Büro sitzen und nicht so zwischen Tür und Ampel.» Sie stutzte und sah ihn verlegen an. «Mist, so heißt das nicht.»
Er unterdrückte vergeblich ein Lachen. «Es heißt Tür und Angel.»
Es kam äußerst selten vor, dass Navideh mal nach einem deutschen Wort suchen musste. Nur bei Sprichwörtern war sie ab und an unsicher.
Schweigend fuhren sie weiter. Doch Petersen hatte vergeblich darauf gesetzt, dass sie im Büro Gelegenheit für ein Gespräch finden würden. Kaum waren sie vom Parkplatz durch den strömenden Regen ins Bürogebäude gelaufen, fing sie Tewes auf dem Flur ab.
Ein Zeuge meinte, Nilgün am Montagabend im Stadtteil Blockdiek wiedererkannt zu haben. Er hatte den Beitrag über die Pressekonferenz in einem Privatsender gesehen und sich an einen Streit zwischen einer jungen türkisch aussehendenFrau und «einem Schwarzen» direkt vor der Apotheke gegenüber seines Wohnhauses erinnert.
Bis Mittwoch fuhren Steenhoff und Petersen von Termin zu Termin. Auf Block und Wessel konnten sie nicht zählen, da ihre beiden Kollegen ganze zwei Tage für die Vernehmung von Yasemins weitverzweigter Familie in Berlin benötigten.
Die Zeugen, die sich nach dem Aufruf in den Medien gemeldet hatten, klangen oft vielversprechend. Doch am Ende stellte sich jedes Mal heraus, dass sie sich geirrt hatten, als sie Nilgün wiederzuerkennen meinten. So entpuppte sich die vermeintliche Türkin des ersten Anrufers als Studentin aus Rheinland-Pfalz, die ihren Freund vor der Apotheke vergeblich davon überzeugen wollte, ein Pflaster gegen seine Nikotinsucht aufzukleben.
Alle Stränge, die sie verfolgten, schienen ins Leere zu laufen. Auch in Berlin bekamen Wessel und Block nur bestätigt, was sie von Anfang an vermutet hatten: Zwischen den Familien von Yasemin und Nilgün bestand keine Verbindung. «Niemand ist verschwägert, es gibt keinen gemeinsamen Großcousin, keine gemeinsame Cousine. Die Väter stammen aus unterschiedlichen Gebieten der Türkei und haben in Bremen nie zusammen gearbeitet», gab Steenhoff das ernüchternde Zwischenergebnis von Wessel wieder.
Sie steckten in einer Sackgasse.
20
Saliha saß mit angezogenen Beinen auf ihrem Bett und versuchte, ihre aufkommende Panik zu bekämpfen. Auf dem Küchentisch lagen Flugtickets nach Diyarbakir.
Baba
wollte mit
Anne
in den Herbstferien in ihr Heimatdorf fahren. Nach Dicle.
Bei dem Gedanken an ihren letzten Aufenthalt dort schüttelte Saliha sich. Sie hatte sich geschworen, nie wieder dorthin zu fahren. Vor sechs Jahren waren sie alle zuletzt da gewesen. Saliha konnte sich noch gut an staubige Straßen, an müde, ausgemergelte Esel und magere Hühner erinnern, die ihren Verwandten zwischen den Füßen herumliefen. Und an den heißen
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