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Ehrenhüter

Ehrenhüter

Titel: Ehrenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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Familie Cetin für ein paar Euro aufs Spiel setzen? Nur aus Respekt vor seinem Vater riss sich Osman mit letzter Kraft zusammen. Er brüllte den Besitzer an, die Zeitungen gefälligst zu verbrennen. EinigePassanten blieben stehen, Frauen wechselten mit ihren Kindern an der Hand die Straßenseite. Dann stolperte Osman zur Straßenbahnhaltestelle und stieg in eine Bahn ein.
    Saliha hatte den Streit aus ihrem Zimmer heraus beobachtet. Die Medien hatten also darüber berichtet. So wie es die Kommissarin auf dem Schulhof angekündigt hatte. Ihr Vater würde außer sich sein.
    Es kostete Saliha ungeheure Kraft, an diesem Morgen in die Schule zu gehen. Mehrere Lehrer sprachen Saliha ihr Beileid aus. Die Schüler und Schülerinnen dagegen machten einen Bogen um sie. Nur ein Mädchen steuerte direkt auf sie zu und sagte mitfühlend: «Die Sache mit deiner Schwester tut mir echt leid.» Dann war Saliha wieder allein. Aber alles war besser als das, was sie zu Hause erwartete.
    Auf die Minute pünktlich schloss sie die Haustür auf. Sie lauschte einen Moment. Niemand schien zu Hause zu sein. Saliha reckte sich und trat erleichtert ein. Kaum hatte sie ihre Schultasche abgestellt, begann sie mit der Hausarbeit. Ihr Vater sollte eine ordentliche Wohnung vorfinden, wenn er aus Bochum zurückkehrte. Saliha hoffte inständig, dass ihm Osman und Murat keine der Zeitungen hinlegen würden. Sie wusste, er könnte es nicht ertragen.
    Sie wischte, putzte und kochte für den Abend. Mit jeder Stunde, die verging, wurde Saliha unruhiger. Was hätte sie darum gegeben, nach der Schule zu einer ihrer Freundinnen gehen zu dürfen. Aber Osman hatte ihr befohlen, sofort nach Hause zu kommen. Obwohl er der jüngere der beiden Brüder war, gab er den Ton in der Familie an, sobald sein Vater nicht zu Hause war. Nie hätte sie nach ihrem letzten Streit gewagt, sich ihm zu widersetzen.
    Es war kurz vor 20   Uhr, als Osman gemeinsam mit Kemal Cetin zur Tür hereinkam. Eine halbe Stunde später trafMurat aus dem Gemüseladen ein. Geräuschlos verzog sich Saliha in ihr Zimmer. Ihr Vater wirkte um Jahre gealtert.
     
    Als Saliha am nächsten Tag aus der Schule nach Hause kam, hatte sie die Tickets auf dem Küchentisch entdeckt. Sie wollte nicht wieder nach Dicle. Nicht jetzt. Und auch sonst nie wieder.
    Sie stand auf und ging in die Küche, um sich einen Tee zu kochen. Sie wollte Murat bitten, sie ins Krankenhaus zu fahren. Ob
Anne
wohl wusste, was
Baba
vorhatte?
    Während das Wasser kochte, öffnete Saliha erneut den Umschlag mit den Tickets. Der Flug in die Türkei sollte Mitte Oktober losgehen. Sie legte den Umschlag wieder weg und goss das sprudelnde Wasser über die losen Teeblätter in der Kanne. Plötzlich kamen ihr die Schlangen in den Sinn, vor denen die Frauen des Dorfes die Kinder aus Deutschland damals gewarnt hatten. Angeblich konnte sie hinter jedem Holzstoß und in jedem verdorrten Grasbüschel liegen. Saliha schüttelte sich. Jeder Tag in Dicle würde eine Qual werden. Wie lange hatte
Baba
vor zu bleiben?
    Ein weiteres Mal griff sie nach dem Umschlag. Erstaunt stellte Saliha fest, dass nur drei Hinflugtickets drinsteckten. Ihre Brüder würden also gar nicht mitkommen. Natürlich. Jemand musste ja im Gemüseladen arbeiten, und Osman hatte als Lehrling nicht viel Urlaub. Die meisten Tage hatte er bereits im Sommer genommen.
    Dann stutzte Saliha erneut. Warum waren nur zwei Rückflugtickets im Umschlag?
    Suchend schaute sie sich in der Küche um. Ihr Ticket musste herausgefallen sein, als sie den Umschlag das erste Mal geöffnet hatte. Aber auf dem Boden lag nichts. Beunruhigt nahm sie alle Unterlagen heraus und breitete sie aufdem Tisch aus. Ausgerechnet ihr eigenes Rückflugticket fehlte. In die andere Richtung wäre es ihr lieber gewesen. Welch wunderbare Vorstellung, wenn ihre Eltern ohne sie fliegen würden und sie in Bremen bleiben könnte. Es wäre eine Woche Freiheit. Denn selbst Osman konnte sie nicht rund um die Uhr kontrollieren, und Murat verbrachte mehr als zehn Stunden täglich im Geschäft. Aber das Reisebüro hatte tatsächlich vergessen, das Ticket von Diyarbakir zurück nach Deutschland mit hineinzulegen. Sie musste ihren Vater darauf aufmerksam machen. Nicht auszudenken, wenn sie auch nur einen Tag länger als nötig in dem Dorf hocken bleiben müsste.
    Saliha trank eine Tasse Tee und ging in ihr Zimmer. Der Anblick von Nilgüns leerem Bett versetzte ihr jedes Mal einen heftigen Stich. Am Kopfende hingen Fotos von ihrer

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