Ehrenhüter
versuchten Raubes in Huchting. Auch da wurde der Täter nicht ermittelt. Alles in den vergangenen zwei Jahren.»
«Das klassische Opfer, das Straftaten anzieht?»
«Möglich. Wahrscheinlich sogar. Aber denkbar wäre auch noch etwas anderes.»
Navideh sah ihn gespannt an.
«Vielleicht inszeniert die Frau die Taten, um Aufmerksamkeit zu erzielen. Ich habe so einen Fall mal vor Jahren erlebt. Der vermeintliche Täter wurde später rehabilitiert, aber sein Leben war trotzdem zerstört. Es bleibt immer etwas hängen.»
Mit einem Mausklick schloss Steenhoff die Datei wieder. «Dein …» Er suchte nach der passenden Bezeichnung. «Dein Nachbar sollte sich einen guten Anwalt nehmen. Man muss der Frau auf den Zahn fühlen. Vielleicht ist sie psychisch krank und nimmt Medikamente. Ein Kleidungsstück ist schnell zerrissen …»
«Und die großen Hämatome an den Oberschenkeln?»
«Dafür habe ich genauso wenig eine Erklärung wie du. Aber wenn dein Gefühl dich nicht trügt, stammen die Verletzungen nicht von Jorges. Ist eigentlich der Zeuge mit dem Hund gefunden worden? Der, der die vermeintliche Vergewaltigung verhindert hat?»
«Nein.»
«Warum nicht? Er soll doch in der Nähe gewesen sein. Ansonsten hätte der Täter doch nicht von seinem Opfer abgelassen.Folglich muss er auch Schreie gehört haben. Wenn es ihn gibt, muss man ihn auch ermitteln können. Der Anwalt sollte darauf bestehen, dass die Medien über den Fall berichten und einen Zeugenaufruf starten.» Er goss sich einen abgestandenen Kaffee ein. «Und warum wollte diese Frau eigentlich mitten in der Nacht zum Sodenmattsee?»
«Angeblich war das Jorges Wahl. Sie behauptet, ihre eigene Wohnung als Fahrtziel angegeben zu haben. Die liegt in der Nähe des Tatorts.»
«Ist Jorges Taxi schon videoüberwacht?»
«Nein. Danach habe ich auch schon gefragt.»
«Mist. Du hast aber natürlich schon geguckt, ob dein Nachbar sonst noch etwas auf dem Kerbholz hat, oder?»
«Ja. Natürlich. Aber er ist sauber. Keine Einträge. Nichts.»
Steenhoff schrieb Navideh zwei Namen auf und schob den Zettel über den Tisch. «Wenn ich jemals in Schwierigkeiten geraten sollte, dann würde ich mich von einem dieser beiden Anwälte verteidigen lassen. Die sind hartnäckig, intelligent und erfahren. Wenn jemand Jorges helfen kann, dann sie. Ansonsten solltest du nochmal mit den Kollegen vom Fachkommissariat sprechen und deine Bedenken äußern.»
«Danke, Frank.» Sie faltete den Zettel und steckte ihn in ihr Portemonnaie.
Steenhoff stand auf und zeigte auf die Tür. «Und jetzt soll Roman uns erklären, warum er die Trennung verschwiegen hat.»
14
Ein nicht enden wollender Strom kreischender Kinder bewegte sich durch die dunkelbraune Eichentür der Schule und kam Saliha auf der Treppe des ersten Stockwerkes entgegen. Unbewusst drehte sie sich zur Seite. Jemand rief ihren Namen, aber Saliha wollte gar nicht wissen, wer sie suchte. Sie sehnte sich nach der Stille ihres Zimmers. Sie wollte nur noch nach Hause. Zugleich fürchtete sie nichts mehr, als wieder Nilgüns leeres Bett vor sich zu sehen. Die Schwester war ihre einzige Vertraute in der Familie. Die Toten verrieten einen nicht, würden es nie tun. Und Nilgün hatte auch zu Lebzeiten immer zu ihr gestanden. Aber jetzt fühlte sich Saliha so allein wie noch nie zuvor.
Ihre Mutter putzte die Wohnung, kaufte ein und kochte. So wie immer. Aber
Anne
sprach kaum noch ein Wort. Saliha sah, dass sie Tabletten schluckte. Viele Tabletten. Sie halfen Besma, morgens aufzustehen und ihre Arbeit zu verrichten, steif und hölzern wie ein Roboter.
Baba
hatte ihnen allen bei Strafe verboten, den Namen der Schwester auch nur zu erwähnen. Nilgün war nicht nur tot, sondern ihre ganze Existenz war wie ausgelöscht. Nur ihr kleiner Talisman, eine Giraffe mit einem roten Halsband, stand wie immer auf der Fensterbank und schaute auf die Straße. Die Giraffe hatte weiches, flauschiges Fell. An manchen Stellen war die Figur fast blank gerieben, so sehr hatte Nilgün das Stofftier immer geknetet und gestreichelt, wenn sie für eine Klassenarbeit lernte oder sich etwas sehnlichst wünschte.
Ohne dass sie hätte sagen können, wie sie an ihrem ersten Schultag nach Nilgüns Tod wieder nach Hause gekommen war, stand Saliha irgendwann vor ihrem Wohnhaus mit der abgeblätterten Fassade. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft grüßte sie scheu. Aber der Blick und die Stimme des Kindeserreichten Saliha erst, als es schon um die Ecke
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