Ehrenhüter
seine Frau nie wieder gefragt.
Ira hatte Navideh Petersen nach dem Vorfall auf der Jugendfarm vor gut zwei Jahren für immer in ihr Herz geschlossen. Ohne Navideh hätte ein Serienmörder damals ihre Familie zerstört.
Steenhoff spürte, wie seine Brust enger wurde. Er hatte schon lange nicht mehr an die Jugendfarm gedacht. Aber die Bilder kamen immer wieder hoch. Doch es gelang ihm, die Gedanken an Hans Bilg wegzuschieben. Der Mann saß in einer hochgesicherten Klinik für psychisch kranke Straftäter. Seine Ärzte hatten Steenhoff versichert, dass er als unheilbar galt und wohl nie wieder in die Freiheit entlassen würde. Er konnte seiner Tochter nichts mehr tun.
Steenhoffs Blick streifte den Leichnam der jungen Frau. Und, wenn Bilg es je wagen würde, dachte er, dann …
«Frank? Ist alles okay?» Navideh Petersen stand vor ihm und musterte ihn besorgt.
«Klar.» Steenhoff räusperte sich. «Hast du auf dem Deich was gefunden?»
«Nein, eigentlich nicht.»
«Was meinst du mit ‹eigentlich›?»
«Ich hatte meine Jacke dort vorne ins Gras gelegt. Jeder,der auf dem Deich spazieren geht, würde das Kleidungsstück sofort sehen. Und auch die Tote. Sie hat schließlich ein rotes T-Shirt an. Ich vermute, dass jemand wollte, dass sie gefunden wird. Sonst hätte er sie doch vergraben oder in einem See versenkt. Aber …»
«Aber warum macht der Täter sich dann so viel Mühe und schleppt sie über das ganze Deichvorland in Richtung Weser?», beendete Steenhoff ihren Gedanken.
Petersen nickte bestätigend.
Mit einem Ruck drehte sich Steenhoff um und ging zu Marlowski. «Du und deine Leute, ihr habt doch schon mal hier gearbeitet.»
Marlowski schaute überrascht hoch. «Nein, ich war noch nie zuvor hier.» Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. «Du spielst auf das kurdische Paar an, das hier in der Nähe ermordet wurde.»
«Ja.»
«Tut mir leid. Ich hatte damals Urlaub. Aber was willst du wissen?»
«Wo genau lag im August 1999 die Leiche der Kurdin?»
Anstatt zu antworten, zeigte Marlowski auf einen ebenfalls mit einem weißen Schutzanzug bekleideten Kollegen mittleren Alters, der jetzt mit einem schweren Metallkoffer vom Tatortwagen auf sie zukam. Es war Jörg Sehlers, und Steenhoff stellte ihm dieselbe Frage.
Sehlers sah sich prüfend um, so als vergleiche er die grünen Baumkronen, den Deich und die Bucht in seinem inneren Koordinatensystem. Mühsam unterdrückte Steenhoff seine Anspannung, bis Sehlers endlich zu einem Ergebnis kam.
Er streckte den Arm aus und zeigte auf eine leichte Vertiefung vor sich im Schlick. «Das Mädchen lag dort. Genau dort.»
Navideh Petersen spürte, wie ihr ein eisiger Hauch über den Rücken lief. Yasemin, die junge Kurdin, war keine zehn Meter von der Stelle, an der die Unbekannte lag, ermordet worden.
04
Die Obduktion hatte länger gedauert als erwartet. Bernd Brückner war für seine Gründlichkeit bekannt, doch diesmal wirkte er auf Steenhoff nicht konzentriert, sondern eher angespannt. Ohne dass Steenhoff ihn darum gebeten hätte, kündigte Brückner jeden seiner Arbeitsschritte an, beschrieb die einzelnen Schnitte, die er an der Leiche vornahm, und jedes Organ, das er dem eingefallenen Körper mit der hellen, dünnen Waschhaut entnahm. Steenhoff machte sich währenddessen Notizen.
Brückner hatte gerade die Gliedmaßen vermessen, als er Steenhoff das erste Mal direkt ansah. «Bei der Toten handelt es sich wie vermutet nicht um eine erwachsene Frau, sondern um ein Mädchen. Sie ist zwischen 14 und 18, höchstens. Die genaue Altersbestimmung sollen die Hamburger machen. Aber ihr Zungenbein ist noch nicht verknöchert. Außerdem trägt sie eine Hose, die unter Jugendlichen sehr populär ist.» Seine Stimme klang vorwurfsvoll.
«Was ist? Was denkst du?», fragte Steenhoff den Rechtsmediziner.
Brückner, den keine Brandleiche und keine noch so alte Wasserleiche erschüttern konnten, wirkte bedrückt. Er richtete sich auf und trat einen Schritt vom Obduktionstisch zurück. Nachdenklich schaute er auf das tote Mädchen.
«Jemand muss sie doch vermissen. Warum steht sie nicht in unserer Datei?»
Eine wichtige Frage, dachte Petersen. Aber bis jetzt hatten sie keine vernünftige Antwort darauf. «Kannst du schon sagen, wie lange sie tot ist?»
«Vier, fünf Tage. Länger nicht.» Brückner räusperte sich. «Weißt du Frank, meine Tochter ist vergangene Woche 14 geworden. Ich sterbe schon tausend Tode, wenn sie abends mal später als verabredet nach Hause
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