Ehrenhüter
Vorher kann ich leider nichts sagen.»
Steenhoff hatte mit Petersen und Wessel vereinbart, die Schwangerschaft des Opfers vorerst zu verheimlichen. Auch wollten sie den genauen Fundort des Leichnams möglichst verschweigen. Die detaillierten Angaben zum Opfer mussten den Journalisten reichen. Steenhoff wollte alle Spekulationen zu Parallelen mit dem früheren Mordfall vermeiden. In Gedanken sah er die Schlagzeilen schon vor sich. «BunkerValentin fordert neues Opfer» oder «Mordserie am Todesbunker». Nein, sie konnten jetzt keine sensationsheischende Berichterstattung gebrauchen. Schließlich konnte die Unbekannte auch einem Unfall zum Opfer gefallen sein.
Steenhoff stellte sich auf einen langen Abend ein. Der Kriminaldauerdienst sollte die Zeugenanrufe direkt an ihn und seine Kollegen weiterleiten. Sollten brauchbare Hinweise darunter sein, könnten sie ihnen sofort nachgehen.
Navideh Petersen war mit ihrem Rad zu einem nahe gelegenen Supermarkt gefahren und hatte sich Knäckebrot, Käse und Weintrauben besorgt. Ohne weiteren Kommentar legte sie Steenhoff eine Tüte mit Brötchen und Schinken auf den Schreibtisch.
Überrascht sah er hoch. «Danke dir. Aber ich habe eigentlich gar keinen Hunger.»
«Spätestens in drei, vier Stunden wirst du ihn haben, und dann hat hier rings ums Präsidium alles dicht.»
Navideh holte sich einen Teller und Besteck aus dem Schrank und belegte sich mehrere Knäckebrote. Den Teller garnierte sie mit Weintrauben.
Steenhoff bewunderte ihre Fähigkeit, sich selbst unter Stress nicht zu vernachlässigen. Stets legte sie eine erstaunliche Fürsorge für sich und auch für ihn als engsten Kollegen an den Tag. Während ihr Teewasser kochte, schaute sie stumm aus dem Fenster.
«Ist etwas nicht in Ordnung, Navideh?»
Steenhoff rechnete nicht mit einer ehrlichen Antwort. Navideh war auch nach all dem, was sie in den vergangenen drei Jahren gemeinsam erlebt hatten, immer noch verschlossen. Umso überraschter war er, als sie sich zu ihm umdrehte und freimütig antwortete: «Ich hatte mich auf ein Essenübermorgen Abend gefreut und schon alles dafür eingekauft. Das kann ich jetzt wohl absagen.»
«Ja, die nächsten Tage werden wir alle kaum zu Hause aufschlagen.» Sollte er sie fragen, ob sie sich wieder mit Vanessa versöhnt hatte? Die beiden hatten immer so einen innigen Eindruck auf ihn gemacht, dass er noch nicht an eine endgültige Trennung glauben mochte. Aber er fragte nicht weiter.
Ich muss dringend Ira anrufen, durchfuhr es ihn plötzlich. Ira hatte schon vor Wochen Karten für ein Klavierkonzert besorgt. Steenhoff war von Anfang an nicht sonderlich begeistert gewesen. Er liebte Jazz und auch Rock, aber zur Klassik hatte er nie wirklich Zugang gefunden.
«Die Pianistin ist zwar noch jung, aber sie soll göttlich spielen», hatte Ira ihm vorgeschwärmt. Ein paar vermeintliche Expertinnen aus ihrer Yoga-Gruppe hatten ihr den Tipp gegeben. Seine Absage würde Ira treffen. Vielleicht konnte er Marie überzeugen, Ira zu begleiten. Steenhoff wusste zwar, dass auch seine Tochter für Klassik wenig übrighatte, aber Ira wäre sicher begeistert. Erleichtert, einen Ausweg gefunden zu haben, wählte er Maries Handynummer.
Doch seine Tochter klang alles andere als begeistert. «Ich hatte eigentlich eine andere Verabredung an dem Abend. Das passt mir gar nicht, für dich einzuspringen.»
«Du würdest mir und natürlich auch deiner Mutter einen Riesengefallen tun», sagte Steenhoff. «Außerdem hast du doch auch mal Klavierunterricht gehabt. Die Musik gefällt dir bestimmt.»
«Das ist Ewigkeiten her», wandte Marie mürrisch ein.
«Drei Jahre.»
«Nein, vier. Außerdem konnte ich meinen blöden Klavierlehrer nie leiden. Das weißt du genau. Ich habe damalsnur zwei Jahre Unterricht genommen, weil Mama das zur Bedingung fürs Reiten gemacht hatte.»
«Davon wusste ich ja gar nichts», sagte Steenhoff verblüfft.
«Du kriegst sowieso vieles nicht mit, weil du nie da bist. So, wie jetzt, wo du mich einspannen willst, weil du wieder arbeiten musst.»
«Es wurde eine junge Frau mit gebrochenem Genick gefunden, deren Identität wir noch nicht kennen …», sagte Steenhoff ernst.
«Wenn du arbeiten musst, ist immer irgendjemand gewaltsam ums Leben gekommen», erwiderte Marie ungerührt. «Nur leider bringt das auch immer unser Familienleben durcheinander.»
Die Kälte in Maries Stimme berührte Steenhoff unangenehm. Wie konnte sie so teilnahmslos auf das Schicksal der jungen
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