Ehrenhüter
kommt. Ich sage dir, spätestens nach fünf Stunden wäre die Hundestaffel unterwegs und der Hubschrauber in der Luft.»
Steenhoff stimmte ihm zu. Auch er hatte oft Angst um seine Marie. Schon einige Male hatte er nachts die Krankenhäuser abtelefoniert, wenn seine Tochter sich nach einem Diskobesuch verspätete und nicht ans Handy ging. Dabei hatte er es immer geschafft, das Ausmaß seiner Besorgnis vor ihr zu verheimlichen. Aber Ira konnte er nichts vormachen. Sie hatte ihn mehr als einmal ermahnt und ihn an seine eigene Jugend erinnert. «Warst du früher immer pünktlich zu Hause? Ich nicht. Und erzähl mir nicht, Else und Willi waren immer bis drei Uhr morgens wach, um auf dich zu warten.» Steenhoff selbst lag meistens wach, bis er endlich den Schlüssel im Schloss hörte.
Er betrachtete den Leichnam vor sich. Vielleicht ist sie illegal in Deutschland und hat hier als Prostituierte gearbeitet?, dachte er. Aber im selben Moment verwarf er den Gedanken wieder. Die jungen Osteuropäerinnen, die in Bremen heimlich anschaffen gingen, trugen keinen Goldschmuck. Das galt auch für Drogenabhängige. Für eine Osteuropäerin war das Mädchen außerdem zu dunkel. Nein, die Tote kam aus geordneten Verhältnissen. Aber warum hatte dann niemand ihr Verschwinden gemeldet?
Mitten in der Obduktion vibrierte plötzlich Steenhoffs Handy in seiner Jackentasche. Er schaut auf sein Displayund erkannte die Nummer von Navideh Petersen. Eilig wandte er sich vom Obduktionstisch ab und nahm das Gespräch entgegen.
«Ja, Navideh?»
«Wir waren gerade an der damaligen Adresse von Yasemins Familie. Du weißt schon, am Niedersachsendamm. Die wohnen da nicht mehr.»
Steenhoff spürte, wie die Spannung in ihm stieg. «Wo leben sie jetzt?»
«Die türkischen Nachbarn behaupten, sie seien schon vor Jahren nach Berlin gezogen. Angeblich sind sie nach dem Tod ihrer Tochter und nach dem Gerichtsprozess nie wieder nach Bremen zurückgekommen. Wir haben mit der Nachbarfamilie gesprochen. Der Mann sprach gut Deutsch und war auch auskunftsfreudig.»
«Findet raus, wo sie in Berlin leben. Wir müssen die so schnell wie möglich befragen. Bislang ist die Familie unser wichtigster Ansatzpunkt.»
Sie verabredeten, noch am Abend die Medien einzuschalten. Sie mussten wissen, wer das Mädchen vom Bunker Valentin war.
Als Steenhoff zurück zum Obduktionstisch ging, war ihm sofort klar, dass Brückner etwas Neues entdeckt haben musste. Der Rechtsmediziner war so tief in seine Arbeit versunken, dass er ihn gar nicht bemerkte.
Steenhoff konnte geduldig sein. Doch bei einem Morddelikt waren die ersten 24 Stunden von besonderer Bedeutung. Bei den meisten Kapitalverbrechen bekamen sie innerhalb dieser kurzen Zeitspanne heraus, wer für den Tod des Opfers verantwortlich war. Dann galt es nur noch, die Tatverdächtigen zu einem Geständnis zu bewegen oder die Indizienkette so dicht zu machen, dass kein Anwalt sie vorGericht aufbrechen konnte. So wie im Falle eines früheren Kollegen, der seine eigene Frau getötet und den Leichnam zerstückelt hatte. Der Beamte stand von Anfang an unter Verdacht. Doch erst nach Monaten akribischer Ermittlungen hatte ein kleines Team der Mordermittler genug gerichtsverwertbare Beweise zusammengetragen, um den Mann zu überführen.
«Was gibt es, Bernd?» Steenhoff wandte sich mit mühsam unterdrückter Anspannung an Brückner.
Der Rechtsmediziner schreckte hoch. «Wir haben es nicht mit einem Opfer zu tun, sondern mit zweien.»
Steenhoff stutzte. «Du meinst …?»
«Ja, sie war schwanger», unterbrach ihn Brückner. «Im dritten Monat.» Der Mediziner stemmte seine Fäuste in die Wirbelsäule und spannte seinen Körper an, sodass es leise knackte. Erleichtert fiel Brückner wieder in sich zusammen.
Steenhoff wusste, dass der Rechtsmediziner ständig über Verspannungen und Rückenschmerzen klagte. Doch er ging nicht auf Brückners Leiden ein. «Bist du dir mit dem Schwangerschaftsmonat sicher?»
Brückner sah ihn erstaunt an. «Natürlich, sonst hätte ich es dir doch nicht gesagt.» Er deute auf die Haut an den Handgelenken. «Jemand muss sie festgehalten haben. Sie hat Hämatome in den unteren Hautschichten.» Er gab seinem Assistenten ein Zeichen weiterzumachen und zog seine Handschuhe aus. «Ich brauche eine kurze Pause. Kommst du mit vor die Tür?»
Brückner holte eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus seiner Jackentasche und ging mit großen Schritten auf die Eingangstür der Rechtsmedizin zu.
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