Ehrenhüter
Noch im Laufen steckte er sich eine Zigarette in den Mund. Als sie aus demGebäude traten, sah Steenhoff zwei Angestellte, die in einer windgeschützten Ecke des Hofes standen und rauchten. Brückner grüßte die Männer und stellte sich abseits von ihnen in die andere Ecke. Gedankenverloren hielt er Steenhoff die Zigarettenschachtel hin, doch der schüttelte ungeduldig den Kopf.
Brückner wirkte verlegen. «Ach, entschuldige, du rauchst ja nicht.» Gierig zog er an seiner Zigarette und nahm den Gesprächsfaden wieder auf. «Jetzt wisst ihr zwar noch nicht, wer das Mädchen ist, aber ihr habt schon mal ein denkbares Mordmotiv. Vermutlich passte jemandem ihre Schwangerschaft nicht.»
«Wie kommst du auf Mord? Bislang war nur die Rede von einem Genickbruch.»
«Na, hör mal. Für ein Unfallopfer liegt sie an einem ziemlich ungewöhnlichen Ort. Sie wird ja wohl kaum beim Spaziergang vom Deich gestürzt sein.»
Steenhoff gab ihm insgeheim recht. Doch er hatte sich angewöhnt, nicht zu früh Hypothesen aufzubauen und sich so lange wie möglich nur an den Fakten zu orientieren. «Gibt es noch andere Hinweise auf eine Gewalttat?»
«Ja. Hämatome an der rechten Hüfte und der rechten Schulter und eben an den Handgelenken. Sie können allerdings auch von einem Sturz herrühren. Weitere Verletzungen habe ich noch nicht gefunden. Aber es stehen noch mehrere Untersuchungen aus. Bis morgen, übermorgen weiß ich mehr.»
«Gibt es irgendwelche Indizien für eine Sexualtat?»
«Nein. Weder ist ihre Kleidung zerrissen, noch hat sie Verletzungen im Unterleib. Außerdem haben wir bislang keine Spermaspuren entdeckt.»
Steenhoff verabredete mit Brückner, dass er sich sofortbei ihm melden würde, falls er in den nächsten Stunden etwas Entscheidendes finden sollte. Er stand schon vor seinem Wagen, als ihm einfiel, dass er etwas vergessen hatte. Brückner hatte sich in der windgeschützten Ecke eine zweite Zigarette angezündet.
«War es ein Junge oder ein Mädchen?»
Brückner nahm einen kräftigen Zug und atmete wieder durch die Nase aus. «Ein Mädchen. Warum fragst du?»
Steenhoff zuckte mit den Schultern. «Im Augenblick interessiert mich jedes Detail.»
Ohne Gruß stieg er in seinen Wagen. Er musste dringend mit Petersen die Pressekonferenz vorbereiten. Ein Foto der Toten konnten sie nicht herausgeben. Dafür sah ihr Gesicht bereits zu entstellt aus. Vielleicht erkannte jemand die junge Frau auch aufgrund ihrer Haar- und Augenfarbe sowie der Körpergröße wieder? Die wichtigsten Anhaltspunkte aber waren ihre Kleidung und der Schmuck, den sie am Körper trug. Die Gegenstände mussten umgehend fotografiert werden.
Auf dem Weg ins Präsidium meldete sich Lars Diepenau, der Pressesprecher der Polizei. Er war wenig begeistert von der Idee, noch am Freitagabend eine Pressekonferenz einzuberufen.
«Das ist für viele Medien schon zu spät. Manche sind bereits auf Sendung, andere machen um die Zeit Feierabend. Wenn aber nur
Weser-Kurier
oder die
Bild
die Geschichte veröffentlichen, steigen die anderen vielleicht gar nicht mehr ein oder berichten gerade das Nötigste. Eine Story, die schon auf dem Markt ist, verkauft sich nun mal nicht so gut.»
«Aber wir können nicht bis Sonntag oder Montag warten,wenn die Redaktionen alle wieder besetzt sind», protestierte Steenhoff.
«Am besten gebt ihr eine kurze Nachricht mit den wichtigsten Angaben von dem Leichenfund heraus, verschickt ein, zwei Bilder an die Redaktionen und kündigt für Anfang der Woche eine Pressekonferenz mit wichtigen neuen Erkenntnissen im Präsidium an.» Diepenau lachte trocken. «Dann kommen sie alle, und ihr genießt die volle Aufmerksamkeit für euren Fall.»
Widerstrebend willigte Steenhoff ein.
Kurz vor 18 Uhr ging die Meldung an alle Medien. Diepenau hatte einige Journalisten bereits vorgewarnt und gebeten, Platz für eine wichtige Nachricht über ein mögliches Tötungsdelikt frei zu lassen. Dabei hatte er streng darauf geachtet, keine weiteren Details preiszugeben. Allein die Mordkommission entschied, was sie herausgab und was sie noch zurückhielt. Nichts fürchtete ein Pressesprecher mehr, als versehentlich Täterwissen preiszugeben. Diepenau hatte lange genug selbst als Ermittler gearbeitet, um die Tragweite eines solchen Fauxpas einschätzen zu können.
Einige Journalisten reagierten erwartungsgemäß penetrant und löcherten ihn sofort mit Fragen. Doch Diepenau blieb hart. «Spätestens gegen 18 Uhr geht die Nachricht raus.
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