Ehrenhüter
Frau reagieren? Wo blieb ihr Mitgefühl? Und vor allem ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn? Aber er unterdrückte den Impuls, sie deswegen zu kritisieren. Schließlich hatte er selbst in all den Jahren durch seine Erzählungen viel dazu beigetragen, dass seine Tochter mit Mordfällen recht gelassen umging. Er ließ ihr noch einen Augenblick Zeit, auf seinen Vorschlag einzugehen. Aber Marie blieb stumm.
«Also, springst du für mich ein oder nicht?» Langsam wurde es Steenhoff zu viel.
«Wann ist das Konzert denn zu Ende?»
«Ich vermute spätestens gegen 23 Uhr.» Er merkte, wie seine Tochter zögerte. Dann hörte er wieder ihre Stimme.
«Okay. Das geht klar. Vorher wäre ich sowieso nicht zur Party gegangen.»
«Was für eine Party?»
Steenhoff spürte, wie die alte Unruhe wieder von ihmBesitz ergriff. Marie war noch keine zwei Monate aus Neuseeland zurück. Ein knappes Jahr hatte sie dort bei einer Gastfamilie gelebt. Ein Jahr, in dem er sie nicht beschützen und von Feiern abholen konnte. Zwölf Monate, in denen er nicht wusste, mit wem sie sich traf. Keinen ihrer Verehrer konnte er heimlich durch einen Blick in die Polizei-Dateien überprüfen. Er hatte loslassen müssen, und es war ihm schwerer gefallen, als er Ira und vor allem sich selbst je eingestanden hätte.
Aber immerhin war Steenhoff ehrlich genug zuzugeben, dass er, seit Marie auf der Welt war, sich stets um sie sorgte.
«Papa, bist du noch dran?» Maries Stimme klang beunruhigt.
«Ja, entschuldige. Ich war eben durch einen Kollegen abgelenkt», erwiderte Steenhoff ausweichend. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Petersen irritiert von ihrem Computer aufschaute. In dem kleinen Büro entging ihr nichts. Der wuchernde Benjamini zwischen den Schreibtischen erzeugte nur scheinbar ein wenig Privatsphäre.
«Also, die Party findet bei Simone im Bootshaus ihrer Eltern statt. Du weißt doch, eine frühere Klassenkameradin von mir. Wer will, kann dort auch übernachten. Ihr braucht mich also nicht abzuholen. Ansonsten wäre ich auch gut mit dem Rad nach Hause gekommen.»
«Die ganze Strecke nachts allein mit dem Fahrrad?» Steenhoff wurde schon bei der Vorstellung mulmig. Das alte Bauernhaus, das sie bewohnten, lag etwas abseits vom Dorf auf einem seit drei Jahrhunderten trockengelegten Stück Land im Moor. Seit der Hund da war, fühlte sich Steenhoff während seiner Abwesenheit zwar ein bisschen ruhiger, aber unterwegs konnte Ben seine Tochter schließlich auch nicht beschützen.
«Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Papa.» Maries Stimme klang jetzt genervt. «Alex ist auch auf die Party eingeladen, und der wohnt seit kurzem mit seinen Eltern in Lilienthal. Also ganz bei uns in der Nähe.»
«Wer ist Alex?»
«Einer meiner neuen Mitschüler. Kein Kiffer und so viel ich weiß auch kein verurteilter Mörder. Also niemand, der dich interessieren dürfte», antwortete Marie schroff.
Sofort war Steenhoff auf der Hut. Er hatte sich geschworen, nicht wieder in das alte Muster zurückzufallen. Ira hatte ihn gewarnt, dass sich seine Tochter sonst eines Tages ganz vor ihm verschließen würde. In den vergangenen Wochen war sein guter Vorsatz allerdings auch kaum auf die Probe gestellt worden. Viele von Maries Freunden waren bei ihrer Rückkehr noch in den Ferien gewesen oder hatten nur nachmittags Zeit gehabt. Zudem genoss es Marie, viel Zeit mit ihren Eltern zu verbringen. Doch kaum hatte die Schule wieder angefangen und sie sich in ihrer neuen Klasse etwas eingewöhnt, häuften sich die Einladungen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Marie wieder einen Freund haben würde. Aber diesmal, das hatte sich Steenhoff vorgenommen, würde er den Namen des Neuen nicht durch den Polizeicomputer jagen. Damit würde endgültig Schluss sein.
«Also gut. Ich gehe morgen mit Mama ins Konzert», hörte er Marie sagen. «Sie kann mich ja anschließend zu Simone fahren.»
Steenhoff bedankte sich erleichtert und rief dann Ira an. Wie erwartet, war sie zwar enttäuscht, dass er sie nicht begleiten konnte, freute sich aber über Maries Zusage. Verwundert stellte er fest, dass keine der beiden nach seinem neuen Fall gefragt hatte.
Er hatte gerade aufgelegt, als sein Telefon klingelte.Steenhoff warf einen flüchtigen Blick aufs Display und meinte Maries Nummer wiederzuerkennen.
«Ja, was gibt es noch, mein Schatz?»
Ein unterdrücktes Lachen war die Antwort.
«Marie?»
«Nein, nicht Marie. Hier ist Andrea. Hallo Frank. Wir haben lange nichts voneinander
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