Ehrenhüter
Dort teilten sich mehrere Familien die früheren Gemeinschaftsbäder und die Toiletten.Für Kemal Cetin und seine Frau Besma, die als Kinder das Wasser für die Familie noch aus einem zwei Kilometer entfernten Brunnen im Dorf hatten holen müssen, war das neue Zuhause dennoch komfortabel. Jede Familie besaß eine eigene kleine Küche. In den vergleichsweise milden Wintern konnten sie die Zimmer mit Kohle heizen. Niemand musste mehr hungern. Niemand musste monatelang vor sich hinsiechen, bevor die Straßen wieder vom Schnee befreit waren und der Weg zum Arzt in der Stadt wieder befahrbar war.
Auf dem Hof der ehemaligen Kaserne konnten die Kinder spielen, ohne Gefahr zu laufen, von streunenden Hunden oder Schlangen gebissen zu werden. Im Sommer saßen die Nachbarn abends lange draußen, grillten oder spielten Tavla. Außer beim Einkaufen und auf der Arbeit brauchten Kemal Cetin und Besma kein Deutsch zu sprechen. Manchmal kam es ihnen vor, als wären sie nie aus ihrem türkischen Dorf weggezogen.
«Das war auch der Grund, warum wir schließlich dort weggingen.»
Fragend sah ihn Steenhoff an.
«Unsere Kinder wurden älter und sprachen nur Türkisch. Wir wollten aber, dass sie auch deutsche Freunde finden und die deutsche Sprache lernen. Also zogen wir nach Walle.»
«Dort leben auch viele Türken», wandte Steenhoff ein.
«Aber auch Deutsche», sagte Kemal Cetin entschieden. «Natürlich hätten wir noch lieber in einem anderen Stadtteil mit mehr Deutschen gewohnt, aber dort konnten wir die Mieten nicht bezahlen.»
Verwundert machte sich Steenhoff eine Notiz. Bislang hatte er in Kemal Cetin nichts anderes als einen ärmlichenBauernsohn gesehen, der seine archaischen Vorstellungen mit nach Deutschland gebracht hatte. Er fragte sich, wie seine Verachtung für die älteste Tochter mit seinem Anspruch zusammenpasste, dass seine Kinder möglichst gut Deutsch lernen sollten.
Als hätte er Steenhoffs Gedanken erraten, fuhr der Mann ruhig fort: «Ich bin sechs Jahre zur Schule gegangen, dann musste ich die Ziegen und Schafe meines Onkels hüten und meinem Vater im Geschäft helfen. Meine Frau Besma ist nie zur Schule gegangen, ihr Vater hielt es für überflüssig, dass sie Lesen und Schreiben lernte. Sie war mir ja versprochen. Aber Besma wollte lernen. Als wir nach Deutschland kamen, hat sie mich oft gebeten, sie einen Kursus für Analphabetinnen besuchen zu lassen. Ich habe es ihr erst verboten. Aber schließlich habe ich nachgegeben. So konnte sie auch den Kindern in der Schule etwas helfen. Besma hat immer darauf geachtet, dass die Kinder ihre Hausaufgaben machen und viel lernen.»
«Gab es ein Kind, das besonders erfolgreich in der Schule war?»
«Ja.»
«Sagen Sie es mir.»
Kemal Cetins Gesichtszüge verhärteten sich. «Nilgün.»
«Sie hat ein Gymnasium besucht?»
«Ja.»
«Waren manchmal deutsche Freundinnen von ihr zu Besuch?»
Kemal Cetin zuckte mit den Schultern. «Ich weiß nicht. Ich bin von morgens bis abends im Geschäft.»
Steenhoff ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor er die nächste Frage stellte. «Wussten Sie, dass Nilgün seit längerem einen Freund hatte?»
Die dunklen Augen des Mannes blitzten auf. «Nein!»
«Was glauben Sie, warum hat sie es Ihnen nicht erzählt, Herr Cetin?» Steenhoffs Stimme klang schneidend.
«Weil … wir sie sonst umgebracht hätten.»
Steenhoff meinte zu erkennen, dass sich Kemal Cetins Augen einen Moment lang mit Tränen füllten. Doch schnell hatte sich der Mann wieder im Griff. Der Satz hing schwer im Raum, und Steenhoff ließ sich Zeit, bevor er mit der Vernehmung fortfuhr.
«Dann ist jetzt ja alles richtig. Ihre Tochter ist tot. Ihre Familienehre gerettet.»
Der Mann schwieg.
«Vielleicht ist Ihnen jemand zuvorgekommen, vielleicht aber auch nicht, Herr Cetin. Vermutlich sind Sie Ihrer ältesten Tochter auf die Schliche gekommen und haben sie getötet und ihre Leiche im hintersten Winkel Bremens entsorgt.»
Der Vater verzog keine Miene.
«Oder Sie haben nur den Auftrag zu dem Mord an Ihrer Tochter gegeben. Und Murat oder Osman mussten den Vollstrecker spielen …»
Wütend sprang Kemal Cetin auf. Sofort richteten sich auch Steenhoff und Fabian Block auf.
«Ich meine, es fällt doch auf, Herr Cetin, dass Ihre Tochter das erste Mal in ihrem Leben vier Tage wegbleibt und Sie Nilgün nicht bei der Polizei als vermisst melden.» Ungerührt herrschte Steenhoff den Mann an: «Verhalten sich so gute Eltern?»
«Ich will sofort einen Anwalt
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