Ehrenhüter
Tochter so ungeschickt umfasste und abknutschte. Plötzlich hatte er wieder das Gesicht des Jungen vor sich. Seine halblangen blonden Haare hingen ihm in die Augen. Schon die Geste, wie er alle paar Sekunden den Kopf zur Seite warf, um etwas sehen zu können, machten Ira und ihn wahnsinnig. Ob Marie damals mit ihm geschlafen hatte? Auf seine vorsichtigen Nachfragen hatte Steenhoff nie eine Antwort erhalten. Wenn der Junge Marie geschwängert hätte … Steenhoff packte allein bei dem Gedanken die blanke Wut. Vielleicht hätte er dann, ähnlich wie Kemal Cetin, auch in einer Vernehmung spontan gesagt, dass er zu allem bereit gewesenwäre. Wenn auch nur in seiner Phantasie. Erst später hatte er sich eingestehen können, dass es ihm kein Freund von Marie hätte recht machen können. Er hatte einfach Angst gehabt, Marie zu verlieren. So wie man eine Tochter eben verlor, wenn sie vom Mädchen zur Frau wurde.
Die Ecke des Parkplatzes, in dem er seinen Wagen geparkt hatte, lag im Dunkeln. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte ein helles Licht am Nachthimmel auf. Das Grollen kam aus weiter Ferne. Irgendwo in 30, 40 Kilometer Entfernung ging ein Gewitter nieder. Wind kam auf.
Steenhoff wollte gerade in seinen Wagen steigen, als ein Schatten neben seinem Fahrzeug auftauchte.
«Könntest du mich vielleicht nach Hause bringen? Mein Rad hat einen Platten.» Navideh Petersen wirkte verlegen.
Der Wagen hatte das Präsidiumsgelände kaum verlassen, als sie sich direkt an Steenhoff wandte.
«Was meinst du? War es jemand aus der Familie? Einer der beiden Söhne oder Kemal Cetin?» Ohne seine Antwort abzuwarten, redete sie weiter. Navideh war überzeugt, dass weder die Mutter noch Saliha etwas mit Nilgüns Tod zu tun hatten. «Die Verzweiflung von Besma Cetin war echt», sagte Petersen bestimmt. «So einen Auftritt kann man nicht spielen.»
Steenhoff gab ihr recht. Aber er blieb vorsichtig. Gab es in diesen Kulturen nicht auch Klageweiber, die auf Bestellung Unmengen von Tränen vergossen, um einen Toten zu ehren? Trotz vieler Einsätze in türkischen und arabischen Familien waren ihm Denkweise und Verhalten der Menschen fremd geblieben. Nein, Nilgüns Angehörige bildeten weiterhin den engsten Kreis der Verdächtigen. Obwohl sie ganz offensichtlich nichts von der Schwangerschaft ihrerTochter wussten. Vorausgesetzt ihre Reaktion war nicht gespielt, als er ihnen die Tatsache im Wohnzimmer mitgeteilt hatte.
«Vielleicht sind sie Montagabend hinter Nilgüns und Romans Beziehung gekommen und haben sie gewaltsam beendet?», sagte Steenhoff.
«Aber sie behaupten, Nilgün tagelang gesucht zu haben. Ihre Beschreibungen der Orte und Plätze stimmten überein», entgegnete Petersen.
Steenhoff schüttelte unwillig den Kopf. «Und warum haben sie dann nicht die Polizei eingeschaltet? Nur um nicht in den Verdacht zu kommen, eine unehrenhafte Tochter zu haben? Das ist doch albern. Das passt doch nicht.»
Er schaute Petersen direkt an. «Navideh, deine Familie ist doch auch muslimisch geprägt. Die hätten doch auch Gott und die Welt in Bewegung gesetzt, wenn du verschwunden wärst und sie sich Sorgen gemacht hätten. Alles andere ist doch nicht normal.» Er spürte sofort, dass seiner Kollegin der Vergleich unangenehm war. Aber es war zu spät. Er konnte den Satz nicht wieder zurücknehmen.
«Meine Eltern stammen aus der oberen Mittelschicht im Iran. Beide haben studiert und sind in der Großstadt aufgewachsen. Ihr Verhalten in Ausnahmesituationen und Konflikten kann man sicherlich nicht mit denen ehemaliger Hirten und Analphabeten aus Ostanatolien vergleichen. Solche Menschen sind viel stärker in ihren Traditionen verhaftet als beispielsweise das Bildungsbürgertum in der Türkei.» Nachdenklich fügte Navideh noch hinzu: «Aber selbst in meiner Familie galt meine Beziehung mit Vanessa als Schande. Und wie weit mein Bruder bereit war zu gehen, um diese Schande in seinem Sinne auszulöschen, weißt du ja selbst am besten.»
«Aber deine Mutter hat ihn daraufhin vor die Tür gesetzt. Sie hat sich klar dagegengestellt.»
«Ja, das hat sie.»
«Und wie hätte dein Vater reagiert, wenn er noch leben würde?»
Petersen starrte auf die nur von einigen Laternen beschienene Straße vor ihnen. «Diese Frage habe ich mir oft gestellt.» Sie überlegte und fuhr dann fort: «Er hätte mir sicher nichts angetan. Aber vermutlich hätte er den Kontakt zu mir abgebrochen.»
Als sie sah, dass Steenhoff verständnislos den Kopf
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