Ehrenhüter
schüttelte, reagierte sie gereizt: «Was meinst du, wie viele deutsche Männer und Frauen, die ihren Eltern das erste Mal von ihrem gleichgeschlechtlichen Partner erzählen, anschließend nicht mehr Mamas Liebling sind oder von ihrem Vater enterbt werden?»
Steenhoff wollte etwas einwenden, aber Navideh sprach unbeirrt weiter. «Ich glaube, der Grund, warum der Vater und die Brüder Nilgün so ablehnend gegenüberstehen, hat wenig mit ihrem muslimischen Glauben zu tun. Jedenfalls würde das zu kurz greifen.»
«Sondern?»
«Das ist nicht so einfach zu erklären. Aber ich werde mich in den nächsten Tagen nochmal mit dem Ehrbegriff in dem ostanatolischen Kulturkreis beschäftigen. Vor Jahren habe ich darüber mal in der Ausbildung eine Arbeit geschrieben. Ich habe sie irgendwo zu Hause rumliegen.»
Navideh zwirbelte ihre langen Haare zu einem Zopf, den sie ohne Nadel am Hinterkopf festmachte. Im Profil hatte sie eine lange, feingeschnittene Nase. Selbst bei diesen Lichtverhältnissen bemerkte Steenhoff ihre langen, dunklen Wimpern. Mit ihrem glatten Teint und der braunen Hautähnelte sie den Frauen aus den Modeheften, die Marie früher nachzueifern versuchte. Nur ein paar Fältchen um ihre Augen herum verrieten, dass Navideh Petersen schon Anfang 30 war.
«Deine Vorstellung von dem Begriff Ehre ist eine andere als meine», spann Navideh ihren Gedanken weiter. «Und meine wiederum eine andere als die von Nilgüns Familie. Offenbar spielt die Ehre aber eine enorme Rolle im Leben der Cetins. Zumindest die Männer haben die Familienehre mehrfach in ihrer Vernehmung betont. Die Brüder haben noch nicht einmal nachgefragt, wie Nilgün denn ums Leben gekommen ist. Vermutlich weil die Schwester aufgrund ihres Fehltritts für sie sowieso schon auf eine Art gestorben war.»
«Vielleicht wissen sie ja auch, wie Nilgüns letzte Stunde ausgesehen hat», warf Steenhoff ein. «Aber du hast recht, Navideh: Was bringt einen Vater sonst dazu, einem Mordermittler gegenüber zu äußern, er hätte seine Tochter selbst umgebracht, wenn er von deren Liebesbeziehung gewusst hätte. Anstatt etwas zu beschönigen, hat er sich damit enorm belastet. Wir müssen dringend besser verstehen, wie die ticken.» Er unterdrückte vergeblich einen heftigen Niesreiz.
Navideh kramte in ihrer Tasche nach einem Tempo und fand nur ein zerknülltes, wenn auch unbenutztes Exemplar. «So etwas wie den Begriff Familienehre kennt man in Deutschland doch gar nicht, oder?» Sie sah ihn fragend an.
«Nun, vor 30 Jahren galt es noch als Schande, wenn die Tochter ein uneheliches Kind bekam. Oder wenn sich eine Frau scheiden ließ. Das fiel auch immer negativ auf die Familie zurück.»
«Oder wenn sie ein Verhältnis mit einem Asylbewerber hatte», schlug Petersen vor.
«Aber wünscht man der eigenen Tochter oder Schwester deshalb den Tod?», fragte Steenhoff zweifelnd.
«Nein», sagte Navideh entschieden. «So etwas gibt es in Deutschland wohl nicht. Oder besser: nicht mehr. Aber das heißt auch, dass Deutsche und Einwanderer zwar Tür an Tür leben, aber wir uns trotzdem in völlig unterschiedlichen Welten befinden. Zwischen den Kulturen ist ein unsichtbarer Grenzzaun, der niemanden durchlässt.»
«Nilgün ist durchgeschlüpft.»
«Und sie hat dafür bezahlt.»
Navidehs Gedanken begannen Steenhoff immer mehr zu fesseln. «Kümmere dich morgen darum, Navideh. Aber zuerst musst du Saliha ein zweites Mal vernehmen.»
Schweigend fuhren sie durch das nächtliche Bremen. Zahlreiche Ampeln waren abgeschaltet, und sie kamen schnell voran. Erst im Ostertor, wo Navideh Petersen in einem Altbremer Haus lebte, waren die Straßen belebt wie am Tage. Studenten, Punks und Schüler, aber auch ältere Paare zogen zwischen den vielen Kneipen hin und her. Und obwohl ein Gewitter heraufzog und es bereits kühl war, saßen in den Straßencafés viele Menschen und unterhielten sich angeregt oder betrachteten die Passanten bei einem Glas Wein.
«Hier ist man wohl nie allein», sagte Steenhoff, der vor einer Gruppe Radfahrern kapitulierte, die ihm lachend in der Einbahnstraße entgegenkamen und es nicht für nötig hielten auszuweichen.
«Und wenn doch, dann fällt es hier besonders schmerzhaft auf», sagte Navideh.
Verwundert sah Steenhoff sie an. Doch vergeblich suchte er in ihrem Gesicht nach einer Spur Ironie. Navideh sprach kaum über ihr Privatleben oder über ihre Gefühle, und erwusste nicht, ob der hingeworfene Brocken eine Aufforderung zu einem Gespräch
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