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Ehrenhüter

Ehrenhüter

Titel: Ehrenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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Rechtsmedizin zwischen ihnen geschehen war.
    Während die Teeblätter im heißen Wasser zogen, musterte Steenhoff Nilgüns Vater.
    Der Mann war von gedrungener Statur. Er hatte kräftige, behaarte Unterarme und breite Schultern. Steenhoff vermutete, dass der Türke von Kindesbeinen an körperlich schwer gearbeitet hatte. Auffällig waren seine dunklen, fast schwarzen Augen, von denen selbst jetzt noch ein leuchtender Schimmer ausging. Sein Blick schien auf einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand gerichtet zu sein. Er wirkte abwesend, fast wie unter Drogen. Steenhoff fragte sich, ob der Mann möglicherweise hinter seiner demonstrativ zur Schau getragenen Verachtung für seine Tochter einen Schock erlitten hatte. Aber Kemal Cetin konnte alle Fragen zu seiner Person ohne Zögern beantworten. Nur eine leise Unruhe ging von ihm aus. Wiederholt griff sich der Mann in die Hosentasche. Schließlich tastete er mit der rechten Hand über sein Hemd und holte eine zerknüllte Zigarettenschachtel aus der Hemdtasche hervor.
    «Darf ich rauchen?»
    Steenhoff unterdrückte ein Seufzen. «Bitte.»
    Kemal Cetin steckte sich eine Zigarette an und inhalierte mit geschlossenen Augen. Verwundert stellte Steenhoff fest, dass der Mann nicht im Geringsten nervös wirkte. Steenhoff überlegte, wie er beginnen sollte. Üblicherweise versuchte er, einen Draht zum Verdächtigen aufzubauen. Selbst wennder Mensch, den er zu vernehmen hatte, ihm zutiefst zuwider war, gelang es ihm in der Regel, seine wahren Gefühle zu verbergen. Der Täter sollte sich in seinen Motiven verstanden fühlen. Nur deswegen öffneten sich viele Verbrecher den Ermittlern. Auf diese Weise hatte Steenhoff schon viele Geständnisse erhalten. Geständnisse, die den Täter zwar erleichterten, aber ihn oft für Jahre hinter Gitter brachten.
    Weichkochen
nannten die Kollegen Steenhoffs Methode. Tatsächlich sahen viele Mörder und Totschläger in Steenhoff zunächst nur den umgänglichen, verständnisvollen Beamten. Jemand, der mit ihnen fühlte, der wusste, warum sie rotgesehen hatten, warum sie so handeln mussten, wie sie gehandelt hatten. Erst vor Gericht merkten viele, dass sie einem Irrtum aufgesessen waren. Die Erkenntnis traf manche Täter wie ein Schlag: Der Kommissar, der als Zeuge in ihrem Prozess aussagte, war von Anfang an nur darauf bedacht, sie zu überführen.
    Doch diesmal waren die Fronten von Anfang an klar. Kemal Cetin konnte er nichts mehr vorspielen. Der Türke wusste, dass Steenhoff kein Verständnis für seine Haltung gegenüber der freiheitsliebenden Tochter aufbrachte.
    Steenhoff schaltete das Aufnahmegerät ein. «Wie sind Sie nach Deutschland gekommen?»
    «Warum ist das wichtig?»
    «Alles ist wichtig, um zu begreifen, warum Ihre Tochter sterben musste.»
    «Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich keine Tochter mehr habe.»
    Block sah erstaunt von seinem Computer hoch.
    Steenhoff zwang sich, ruhig zu atmen. Diesmal würde es dem Gemüsehändler nicht gelingen, ihn aus der Reserve zu locken. «Richtig, Herr Cetin. Sie haben keine Tochter mehr.Denn die wurde im Alter von nur 16   Jahren getötet und wie ein Stück Dreck auf eine Wiese geworfen», erwiderte Steenhoff kalt.
    «Sie selbst hat sich wie ein Stück Dreck verhalten. Sie hat uns alle beschmutzt.»
    Ungerührt fuhr Steenhoff fort: «Also, wie und wann sind Sie nach Deutschland gekommen?»
    «Was hat das mit ihr zu tun?»
    «Beantworten Sie die Frage!»
    Kemal Cetin zuckte mit den Schultern. «Wir stammen aus dem Dorf Dicle, bei Diyarbakir, im Osten der Türkei. Ich bin mit 13 oder 14   Jahren mit meiner Mutter und vier Geschwistern nach Bremen gekommen. Mein Vater hatte hier bereits mehrere Jahre gearbeitet und für uns eine Wohnung besorgt.»
    «Wo?»
    «In der Neustadt. Am Niedersachsendamm.»
    «Wo war Ihre heutige Frau zu diesem Zeitpunkt?»
    «Sie war noch im Dorf, in Dicle. Wir waren einander versprochen. Aber sie war noch zu jung zum Heiraten. Ich habe meine Cousine erst nachgeholt, als sie 14   Jahre alt war.»
    «Ihre Cousine? Da war sie alt genug zum Heiraten?»
    «Ja.»
    Im Folgenden erfuhr Steenhoff, dass Besma Cetin mit 17   Jahren ihr erstes Kind bekommen hatte, Murat. Ein Jahr später folgte Osman, ihr Zweitgeborener. Anfangs wohnte Kemal Cetin noch gemeinsam mit seiner Frau und den beiden Kindern sowie einer jüngeren Schwester in der Wohnung seiner Eltern am Niedersachsendamm. Mit der Geburt des dritten Kindes erhielten sie eine eigene Wohnung in der früheren Kaserne.

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