Ehrenhüter
ein Verhältnis eingegangen war. Sie mussten dringend mit dem Jungen sprechen.
«Uns ist vor allem wichtig, dass Ihr Sohn in den kommenden Tagen etwas Vorsicht an den Tag legt», sagte Steenhoff. Er versprach, das zuständige Revier zu informieren. «Die werden in den kommenden Nächten in Ihrer Straße Streife fahren.»
Stefanie Wagenknecht sah skeptisch aus, aber sie wiederholte nicht ihre Drohung, an die Öffentlichkeit zu gehen.
Steenhoff gab Mutter und Sohn noch seine Handynummer und brachte sie zur Tür. Sie waren kaum die Treppe hinuntergelaufen, als er die Mutter fragen hörte: «Sag bloß, du hattest was mit der ermordeten Türkin?»
Lennart nuschelte etwas, was Steenhoff nicht verstand. Kurze Zeit später sah er, wie die beiden über den Hof liefen. Stefanie Wagenknecht gestikulierte heftig. Lennart trottete mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern neben ihr her.
Gedankenverloren sah Steenhoff Mutter und Sohn nach. Jemand hatte Nilgün an ihren Bruder verraten. Plötzlich spürte er, dass jemand hinter ihm stand. Ohne aufzuschauen, wusste er, dass es Navideh Petersen war.
«Wegen eines Kusses zwischen zwei Jugendlichen schleicht dieser Osman nachts mit einem Messer in der Tasche um fremde Häuser.» Steenhoff war empört. «Wo leben wir eigentlich?»
«In verschiedenen Welten», antwortete Navideh. «In manchen türkischen Familien reicht schon ein Gerücht, um ein Mädchen in Gefahr zu bringen.»
«Aber jedem normalen Vater oder jeder normalen Mutter ist doch das Leben der eigenen Tochter wichtiger als das Gerede von anderen.»
«Ja, wenn er nicht in dem engen Korsett des traditionellen Ehrbegriffs steckt, das vielen türkischen und arabischen Familien auferlegt ist.»
Steenhoff sah Navideh fragend an.
Nachdenklich fuhr sie fort: «Für einen traditionellen türkischen oder arabischen Mann ist seine Ehre das wichtigste Kapital im Leben. Erst diese Ehre macht ihn zum anerkanntenMitglied seiner Gemeinde. Er wird durch sie geschäftsfähig und ein akzeptierter Verhandlungspartner. Und er kann damit rechnen, dass seine Söhne eine Braut und seine Töchter einen Ehemann finden. Seine Ehre wiederum erwirbt er sich nicht selbst, sondern sie wird durch das Verhalten der weiblichen Familienmitglieder bestimmt. Zentral ist dabei, dass die Mädchen noch Jungfrauen sind, wenn sie heiraten, und sich vor der Ehe nicht mit Jungen einlassen. Aber auch mangelnder Gehorsam gegenüber männlichen Familienmitgliedern kann die Ehre des Patriarchen schmälern. Deswegen scheuen manche Männer nicht davor zurück, ihre Autorität gegenüber ihren Töchtern und Ehefrauen notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen.»
«Hast du das selbst so erlebt? Oder woher weißt du das alles?», fragte Steenhoff verblüfft.
Navideh zuckte unmerklich zusammen, hatte sich aber sofort wieder im Griff. «Ich hab dir doch erzählt, dass ich meine Abschlussarbeit darüber geschrieben habe», sagte sie mit fester Stimme. «Als ich später am Revier im Bremer Westen Dienst gemacht habe, hat mir diese Arbeit oft geholfen, die Konflikte in den türkischen Familien zu verstehen. Denn die Mädchen, die hier aufwachsen, rebellieren natürlich gegen diese Denkweise. Und schon knallt es. Die Mädchen gehen stiften, flüchten in Frauenhäuser, fügen sich oder werden in den Ferien in der Türkei verheiratet.»
«Das ist doch alles vorsintflutlich», sagte Steenhoff wütend.
«Du musst bedenken, wo die Leute herkommen. Die meisten, mit denen wir es in Bremen zu tun haben, stammen aus Dörfern aus dem Südosten der Türkei. Das Leben dort wird seit Jahrhunderten von archaischen Traditionen bestimmt. Der Verlust der Ehre kann für die betroffenenAngehörigen bedeuten, dass sie ausgegrenzt werden und niemand mehr etwas mit ihnen zu tun haben will. In den türkischen Großstädten geht es völlig anders zu. Ich hatte eine Freundin in Hamburg, deren Eltern aus Ankara stammten. Eine selbstbewusste, moderne Frau. Sie hätte ebenso aus Paris oder London kommen können.»
«Und was hat der Islam deiner Meinung nach mit diesem Ehrbegriff zu tun?», hakte Steenhoff nach.
«Soviel ich weiß, gibt es darüber einen großen Gelehrtenstreit», erwiderte Navideh. «Einige Soziologen und auch einige türkischstämmige Autoren sind der Überzeugung, dass der Islam dringend modernisiert werden müsste. Denn er hat einen großen Einfluss auf die Geschlechterfrage. Andere argumentieren, dass vor allem die Traditionen und nicht etwa der Islam die Frauen in ihre
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