Ehrenhüter
nur ein bisschen Schlaf, um wieder klar zu denken›, dachte er.
Ohne dass er es beabsichtigt hatte, stand er plötzlich vor Romans und Nilgüns Schule. Eine Gruppe von Fünftklässlern kam ihm lärmend entgegen. Ein dicklicher Junge hatte ein beleidigtes Gesicht aufgesetzt und forderte lautstark: «Gebt mir meinen Schrankschlüssel wieder. Wenn ihr ihn mir nicht sofort gebt, dann …»
Steenhoff hörte nicht mehr, womit der Junge seinen Mitschülern drohte. Die Gruppe war plötzlich ins Rennen gekommen, da eine Straßenbahn nahte.
Steenhoff fasste sich in die Jackentasche. Die Tüte mit dem metallenen Beweismittel war noch da. Er hatte am Vortag vergessen, sie zusammen mit Nilgüns Schlüssel zu den anderen Fundstücken zu legen. Einem Impuls folgend ging er zum Haupteingang der Schule.
Steenhoff hatte Glück. Die Schulsekretärin wollte gerade Feierabend machen, als sie ihn im Flur entdeckte. Die Frau wusste sofort, wo sich Nilgüns Klasse befand, und führte Steenhoff hin. Vor dem Eingang standen 22 Metallschränke. Nilgüns war ganz außen rechts, die Nummer elf.
«Ich weiß nicht, ob Sie den Schrank einfach so öffnen dürfen.» Die Sekretärin bekam plötzlich Zweifel. «Ich meine, schließlich gibt es ja Datenschutz …»
Steenhoff glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. «Es geht hier um ein Tötungsdelikt», knurrte er die Frau an.
Sie nickte verlegen. Steenhoff bat sie, ein paar Schritte zurückzugehen. Er wollte nicht, dass die Frau Einblick in Nilgüns Spind erhielt. Gespannt steckte er den Schlüssel ins Schloss. Er passte. Aber Steenhoff musste den Schlüssel gar nicht drehen, denn die Tür war schon offen. Jemand hatte das Schloss aufgebrochen und anschließend die Spindtür wieder zugedrückt.
Steenhoff brauchte den Schlüssel nur zu sich hin zu ziehen,um den Spind zu öffnen. Der Anblick des Inhalts ließ seinen Puls schneller schlagen.
12
Navideh Petersen entdeckte Saliha auf einer Bank am Rande des Schulhofes. Die Sitzfläche war mit Grünspan überzogen, und in den Ritzen zwischen den Holzblättern lag das bräunliche Laub einer Kastanie. Jemand hatte vor langer Zeit ein Kaugummi mitten auf die Sitzbank gedrückt. Aber Saliha schien unempfindlich für den Anblick der verschmutzten Bank. Sie hatte ihre Hände tief in den Jackentaschen vergraben und starrte auf ihre Schuhe. Sie bemerkte Navideh erst, als diese direkt vor ihr stand. Langsam, als koste es sie unendliche Mühe, hob sie den Kopf.
«Hallo, Saliha. Ich freue mich, dass du wieder zur Schule gehst», begrüßte Navideh sie.
Saliha antwortete nicht.
Navideh zog ihre Regenjacke aus und legte sie als Unterlage auf die Bank, um sich zu dem Mädchen zu setzen. Unmerklich rückte Saliha ein Stückchen von ihr ab.
«Es muss schwer sein, nach so einer Sache wieder in die Klasse zu kommen. Alle bombardieren einen mit Fragen. Die anderen haben ja sicher die Zeitungen gelesen», begann Navideh.
Das Mädchen zuckte die Schultern, und im selben Moment wurde Navideh klar, wie unsinnig ihre Bemerkung war. Saliha war offensichtlich völlig allein. Niemand schien sich für sie und das Schicksal ihrer Schwester zu interessieren.
«Wo sind deine Freundinnen?»
«In der Klasse? Beim Bäcker?» Salihas Stimme klang bitter.
Zu bitter für eine 1 4-Jährige , fand Navideh.
«Vielleicht besprechen sie auch, was sie am Wochenende machen wollen. Oder auf welchen Jungen sie gerade stehen.»
«Warum ist niemand hier bei dir?», fragte Navideh direkt.
«Ich will allein sein.» Sie setzte sich aufrecht hin und schaute mit zusammengekniffenen Augen über den Schulhof.
«Saliha, ich möchte mit dir über deine Schwester sprechen. Hier und nicht zu Hause. Ich habe deinen Lehrern Bescheid gesagt. Können wir ein Stückchen gemeinsam gehen?»
«Ich will hier bleiben.»
«Einverstanden», antwortete Navideh widerstrebend. Obwohl sie am äußeren Rand des Schulhofes saßen, fühlte sie sich beobachtet. In einiger Entfernung zogen kleine Grüppchen von Mädchen ihre Kreise. Sie hatten sich untergehakt und schauten unverhohlen zur Bank hinüber. Einige von ihnen trugen ein Kopftuch.
«Kanntest du Nilgüns Freund?», begann Navideh vorsichtig.
Saliha schüttelte den Kopf.
«Aber du wusstest, dass sie einen hatte?»
Saliha zögerte. Doch sie blieb stumm und verkroch sich wieder in ihre Jacke.
Navideh wusste, so kam sie nicht weiter. Sie musste Saliha aus ihrem Kokon herauslocken. «Jemand hat deine Schwester getötet und sie wie Abfall auf eine
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