Ehrenhüter
Anis, Knoblauch und Salbei.
Kemal Cetin und sein Sohn Murat schienen wenig überrascht, als sie die beiden Beamten vor sich sahen, und Steenhoff vermutete, dass seine Frau Kemal gewarnt hatte.
Wessel hatte Steenhoff gebeten, auf der Fahrt zu dem Geschäft der Cetins am nächsten Buchladen zu halten, um dort zwei neue Stadtpläne zu kaufen. Vater und Sohn stutzten kurz, als Wessel sie aufforderte, unabhängig voneinander die Orte und Straßen einzuzeichnen, an denen sie am Montagabend nach Nilgün gesucht hatten. Aber schließlich nahmen sie die Stifte von Wessel entgegen und beugten sich über das Straßennetz. Anschließend steckte Wessel die Stadtpläne kommentarlos wieder ein. Er würde sie später im Büro auswerten.
Dann bat Steenhoff erst Kemal Cetin und anschließend Murat ins Hinterzimmer des Geschäftes. Ein altes Sofa und ein Marmortisch waren die einzigen Möbel im Raum. Über dem Sofa hing ein Bild von der türkischen Riviera. Die Farben waren so stark verblasst, dass Strand, Meer und Berge miteinander verschwammen.
Die Aussagen von Vater und Sohn waren nahezu identisch. Als Steenhoff wissen wollte, was sie mit Nilgün gemacht hätten, wenn sie sie gefunden hätten, zögerte Kemal Cetin keine Sekunde. «Ich hätte sie bestraft und von der Schule genommen.»
«Und sonst? Nichts weiter?»
«Reicht das nicht?», konterte Kemal Cetin kühl.
Murat hatte auf dieselbe Frage nur mit einem Achselzucken reagiert. «
Baba
wollte, dass wir sie finden. Also haben wir sie gesucht. Es ist seine Entscheidung, was er mit seiner Tochter macht. Aber Allah wollte, dass ihr Mörder sie eher findet als wir.»
Steenhoff fröstelte.
Noch auf dem Rückweg ins Präsidium rief Steenhoff bei Staatsanwalt Jens Degert an. «Wir brauchen so schnell wie möglich eine Telefonüberwachung. Die Männer der Familie scheinen von Nilgüns Tod emotional kaum berührt zu sein. Der Vater hat den Namen seiner Tochter nicht einmal bei der Vernehmung erwähnt. Da ist etwas faul in der Familie. Außerdem müssen wir drei Handys beschlagnahmen.»
Jens Degert, der gerade ein freies Wochenende hatte, versprach, sofort ins Büro zu fahren und die Anträge beim Amtsgericht zu stellen.
Erleichtert ließ sich Steenhoff auf den Beifahrersitz zurückfallen. Für Montagmorgen hatten sie eine Pressekonferenz angekündigt. Spätestens am Dienstag würde die gesamte türkische Gemeinde wissen, wer im Deichvorland am Bunker Valentin tot aufgefunden war. Fünf Meter neben der Mulde, in der vor Jahren eine junge Kurdin von zwei Landsleuten so lange mit dem Gesicht in den Matsch gedrückt worden war, bis sie erstickte.
‹Zwei von uns müssen nach Berlin›, durchfuhr es Steenhoff. Sie mussten die Angehörigen des damaligen Opfers in die Mangel nehmen. Er wollte nicht glauben, dass es Zufall war, dass zwei junge Frauen, die nach den strengen Gesetzen ihrer Familie eine verbotene Liebe lebten, getötet und später an derselben Stelle aufgefunden wurden.
Als sie auf dem Rückweg durch den Stadtteil Schwachhausen fuhren, bat Steenhoff Wessel, noch einmal bei Roman Rodewaldt zu halten. Wessel wartete im Auto auf ihn. Fünf Minuten später kam Steenhoff mit dem beschlagnahmten Handy des Jungen aus dem Haus.
«Er wollte es mir erst nicht überlassen», erzählte Steenhoff beiläufig, während er die gespeicherten Nachrichten aufrief. «Aber dann hat seine Mutter ein Machtwort gesprochen.»
«Das Handy ist für viele junge Leute überlebenswichtig», brummte Wessel und bog wieder auf die Hauptstraße ein. «Zumindest glauben sie das.»
Mit einem Ruck setzte sich Steenhoff auf. «Stopp mal!»
Wessel fuhr auf den Haltestreifen einer Buslinie, bremste und stellte den Motor ab. Gespannt beugte er sich zu seinem Kollegen.
Steenhoff wirkte wie elektrisiert, als er Wessel das Handy vor die Nase hielt. «Da! Nilgüns letzte Nachricht an Roman!»
Wessel überflog die Nachricht und pfiff leise durch die Zähne.
«Dreh um», befahl Steenhoff. «Wir fahren zurück zu den Rodewaldts.»
13
Die beiden Männer hatten die mächtige alte Fichte gefällt und in tagelanger Arbeit mit Äxten und Sägen von ihren Ästen befreit. Das Holzhaus musste fertig werden. Es eilte. Der Winter in den Ostkarpaten stand bevor. Ein rumänischer Winter, kein Vergleich zu Norddeutschland. In spätestens zwei Wochen sollte das Haus fertig sein. Die Schläge der Hämmer, mit denen die Männer die Nägel in die Stämme trieben, waren durch das ganze Tal zu hören. Selbst das Läuten der
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